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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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Anschlag wartete er geduldig darauf, dass jemand aus dem Zelt kam.
     
    Nach einer ganzen Weile vergeblichen Wartens entschloss er sich dazu, selbst vorzugehen. Er stieg die Leiter wieder hinab, ging unter dem Tank hindurch und schlich an Ventilationsschächten vorbei, bis er das Zelt erreicht hatte. Vorsichtig schob er eine Abdeckung zur Seite und betrat einen Vorraum, in dem Druckflaschen mit Sauerstoff lagerten. Der Boden unter ihm war nass. Aus einem Duschkopf tropfte noch das Wasser. Luft strömte ihm entgegen und hob einen dünnen Vorhang an, hinter dem sich der Hauptraum des Zelts befand. Der Überdruck wurde durch eine Pumpe verursacht, die beständig Luft von außen ansaugte, filterte und nach innen leitete. Auf diese Weise wurde verhindert, dass sie an anderer Stelle ungefiltert in das Zelt gelangte. Der Wächter schob mit gehobener Waffe den Vorhang zur Seite.
     
    Unmittelbar vor ihm saß der Schütze auf einem Stuhl, den Rücken zu ihm gewandt. Er trug einen neuartigen Schutzanzug, wobei er die Kopfbedeckung nach hinten geklappt hatte. Drei Bildgeber standen auf dem Tisch vor ihm. Der linke zeigte ein Überwachungsbild des Runden Platzes, der mittlere war schwarz und auf dem rechten war der alte Mann aus der Arena zu sehen. Diese Bilder waren in einer der vorigen Nächte mit einem am Kopf befestigten Nachtsichtauge aufgenommen worden. Der alte Mann lag auf einem Bett und schrie wie am Spieß, während der Schütze auf der Bettkante saß und seine Hand hielt, ohne etwas zu sagen. Es sah aber nicht so aus, als ob der Schütze ihn in Wirklichkeit quälen wollte, vielmehr schien es seine eigentliche Absicht zu sein, ihn zu beruhigen. Anscheinend konnte er nicht verstehen, dass er es war, der den Alten zu Tode erschreckte, er selbst das Böse verkörperte. Nachdem sich der Schütze die Szene mehrmals hintereinander angesehen hatte, beendete er die Wiedergabe, und der Bildgeber verdunkelte sich. Urplötzlich drehte er seinen Stuhl herum und sprang hoch, um sich auf den Wächter zu stürzen. Ein Schuss löste sich. Der Schütze taumelte und versetzte dem Wächter einen Stoß, der daraufhin das Gleichgewicht verlor, unglücklich mit dem Kopf auf dem Tisch aufschlug und benommen liegen blieb. Verwundert über die Wirkungslosigkeit des Betäubungsschusses musste der Wächter tatenlos dabei zusehen, wie der Schütze aus dem Zelt flüchtete.
     
    Mit großer Willenskraft gelang es dem Wächter schließlich, sich aufzurichten und die Verfolgung aufzunehmen. Mehrere umgestürzte Kartons wiesen ihm den richtigen Weg. Unmittelbar neben der runden Öffnung in der Gebäudemitte erblickte er einen Mann in einem weißen Schutzanzug, der sich über den regungslos am Boden liegenden Schützen beugte. Langsam ging er auf die beiden zu. Der Mann in Weiß erblickte den Wächter, erschrak, machte einen Schritt zurück und fiel in die Öffnung hinter sich. Der Wächter versuchte noch, ihm einen Arm zu reichen, doch es war zu spät. Was macht ein junger Mann in der Schutzkleidung der Bunkerbewohner hier im Innenministerium?, fragte er sich. War auch er auf der Suche nach dem Schützen? Oder ... oder aber war er auf der Suche nach dem Papier wie so viele vor ihm? Wer das Papier besitzt, den gibt die Stadt frei, der erwacht aus seinem Albtraum, glaubte der Wächter. Das Papier ist Erlösung. Eine Ewigkeit stand er regungslos am Abgrund, ehe er sich dem Schützen zuwandte, der immer noch bewusstlos war. Der Wächter legte den Schalter seines Schallgewehrs auf »Töten«. »Du wirst eine zweite Chance bekommen, auch wenn du sie nicht verdienst. Diese Stadt gibt jedem eine zweite Chance – auch den Mördern«, sagte er, kaum dass es durch seine Staubmaske drang. So ließ er den Schützen zurück und begab sich zum Drehflügler, den er mit mehreren gezielten Schüssen zerstörte. Anschließend ging er in das Zelt und vernichtete die Bildgeber und ein Gewehr mit einem Nachtsichtauge, das auf einem Klappbett lag. Jetzt musste er nach unten in die Arena gehen, um den abgestürzten Mann zu bergen. Ich bin es leid, Tote zu sehen, dachte er.
     
    Der Wächter ging den Weg zurück bis zu jenem Treppenhaus, das am oberen Ende mit Tischen und Stühlen blockiert war, und folgte den Stufen nach unten, bis er den Zugang zur unteren Tribüne erreicht hatte. Als er die Zuschauerränge hinunterstieg, um sich einen Überblick zu verschaffen, erblickte er den Mann in Weiß neben der Dachkonstruktion, die durch den Aufprall zu Boden gerissen worden war
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