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Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall

Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall

Titel: Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
Autoren: Felicitas Mayall
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SEHR LANGSAM, beinahe lautlos, bewegte sie ihre Füße über die blauen und schmutzig weißen Kacheln, die den Boden des Vorraums bedeckten. Als sie die Treppe erreichte, hielt sie sich am Geländer fest, legte den Kopf in den Nacken, folgte mit den Augen dem gewundenen Handlauf, der weit oben im Dämmerlicht verschwand. Sie könnte das Licht anmachen, auf den leuchtenden Knopf an der Wand drücken, ließ es aber bleiben. Tastend stellte sie einen Fuß auf die erste Holzstufe, verlagerte prüfend ihr Gewicht. Es knarrte ein wenig, klang beinahe wie Stöhnen. Sie dachte kurz darüber nach, ob Holz stöhnen konnte. Hielt es für wahrscheinlich, weil sie ein paar Mal den stöhnenden Aufschrei von stürzenden Bäumen gehört hatte.
    Sie zählte die Stufen, nahm die winzige Vertiefung in deren Mitte wahr, Spur Hunderttausender Schritte in hundert Jahren, ging dicht an der Wand, dort, wo das Knarren kaum hörbar war, erreichte sie den ersten Stock.
    Trockenblumenkränze an beiden Wohnungstüren, an der linken ein großes Pappherz: «Hier wohnt die Familie Herzberg» stand da in unregelmäßigen bunten Buchstaben neben vier Strichmännchen. Ein paar Sekunden lang blieb sie stehen, schaute das Herz an, dann den Fußabstreifer. Elefant mit erhobenem Rüssel auf rotem Grund. Überlegte, ob jemand, der im Begriff war, sich umzubringen, solche Botschaften von Hoffnung wahrnehmen würde.
    Zehn Stufen bis zum nächsten Treppenabsatz. Zwei zerrupfte Palmen. Wieder zehn Stufen. Zweiter Stock. Wohnungstüren ohne Kränze. Eine Rechtsanwaltskanzlei und ein winziges Namensschild, das sie im Dämmerlicht nicht lesen konnte. Es roch nach Bohnerwachs.
    Weiter. Die Stufen knarrten jetzt auch am Rand. Überlaut. Alle in diesem Haus konnten sie hören. Aber das spielte keine Rolle, denn es war schließlich normal, dass Menschen dieses Treppenhaus benutzten.
    Auf dem nächsten Zwischenstockwerk keine Palme, nichts.
    Dritter Stock. Dunkle Türen, große Messingschilder. Ein Steuerberater, eine Consulting-Firma. Keine Erfolgsadressen. Ohne Lift. Wieso dachte sie so etwas?
    Sie ging jetzt an der Außenseite der Treppe. Der Handlauf war glatt und prall wie der Körper einer Riesenschlange. Lindenholz? Vermutlich. Sie versuchte normal zu atmen, doch irgendwelche verkrampften Muskeln zwischen ihren Rippen hinderten sie daran. Der nächste Treppenabsatz, das Fenster. Auf dem Sims Töpfe mit halb vertrockneten Geranien, die trotzdem zu treiben begannen. Weil Frühling war. Lange blasse Verzweiflungstriebe.
    Vierter Stock. Namenschilder an den Türen. Aber plötzlich ein Teppich auf den Stufen, die weiter nach oben führten. Dunkelrot. Einladend. Der Teppich dämpfte das Knarren. Sie konnte sich jetzt beinahe lautlos nach oben bewegen, ging plötzlich schneller, sah das Fenster. Es stand weit offen. Sie verharrte, wandte ganz langsam den Kopf, ließ den Blick über die Wand gleiten, dann hinauf zur Decke und wieder zum Fenster.
    Das ist es also, was man als Letztes sieht, dachte sie, ging zum Fenster, lehnte sich hinaus, vermied jede Berührung. Pulsierender Schmerz zog über ihre Wirbelsäule, schien von der Herzgegend auszugehen, kroch hinunter in ihr Becken. Unter sich nahm sie die hellgrünen Blütenbüschel der hohen Ahornbäume wahr, atmete ihren feinen frischen Duft ein. Erste Sonnenstrahlen berührten die Dächer der umliegenden Häuser. Auf der Dachrinne gegenüber saß eine Amsel und sang so heftig, dass ihr kleiner Körper vor Anstrengung bebte. Der Verkehrslärm wurde vom Wall der hohen alten Häuser fern gehalten. Hier war er nicht mehr als Hintergrundrauschen für das Lied des Vogels.
    Langsam ließ sie den Blick nach unten wandern, in den schwarzen Schacht im Schatten der Bäume. Dort unten war noch Nacht. Der Schmerz in ihrer Wirbelsäule verstärkte sich. Wie lange hatte es wohl gedauert? Sechs Sekunden oder eher zehn?
    Sie zuckte zusammen, als tief unten plötzlich Licht aufflammte, den Hinterhof grell erleuchtete. In der Mitte des Hofes lag sie, zerbrochen, das lange Haar weit ausgebreitet, die Glieder schlaff und irgendwie falsch am Körper befestigt.
    «Bist du da oben?» Eine kräftige Männerstimme drang aus dem Schacht herauf.
    Hauptkommissarin Laura Gottberg trat ins Treppenhaus zurück und schloss die Augen. Es war gut, die Stimme ihres Kollegen zu hören. Und doch spürte sie, dass Kommissar Baumann eine Art Erkenntnisprozess unterbrochen hatte.
    «Ja, ich bin hier oben!», rief sie zurück und dachte, dass diese ganze
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