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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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Der alte Wächter ging zum Laderaum, der nun vollständig mit Metallkisten gefüllt war. Auf die linke untere Kiste war ein Zettel geklebt worden. Er nahm den Zettel an sich, schloss die Türen des Laderaums und ging zum Führerhaus, das im Vergleich zu der darunter liegenden Antriebstechnik merkwürdig altertümlich wirkte. Ohne den Ölmangel durch die große Blockade nach dem Krieg würde es diese Fahrzeuge wahrscheinlich gar nicht geben, dachte er. Er zog den Stecker zum Aufladen der Batterien heraus und stieg ein. Um den Schwebewagen zu starten, musste er einen Daumen auf eine rote Fläche neben der Lenksäule legen. Es war ein Lesegerät der neuesten Generation, bei dem neben dem Abdruckmuster ebenso die Temperatur und der Puls des Daumens erfasst wurden. Nachdem die Fläche grün geworden war, startete der Motor automatisch, der Schwebewagen stieg in die Höhe, und er fuhr los. Als er den nördlichen Ausgang der Kaserne erreicht hatte, öffnete er über eine Fernbedienung das Tor und fuhr hinaus.
     
    Vor dem alten Wächter lag der ehemalige Autobahnring, der die Grenze verkörperte, nachdem die gesamte Stadt zu einem Sperrgebiet geworden war. Die Stadt, in der er geboren wurde und in der er die größte Zeit seines Lebens verbracht hatte, war nun eine verbotene Zone. Er steuerte den Schwebewagen auf den Autobahnring in Richtung Westen. Die Natur war zu beiden Seiten unmittelbar an die Fahrspuren vorgedrungen und umklammerte sie fest. Hinter dem grünen Vorhang aus dicht nebeneinander stehenden jungen Bäumen lagen für ihn unsichtbar die Überreste der Stadt. Zwischen den Fahrspuren gleich vor ihm tauchte der erste von einer Vielzahl von Wachtürmen auf, die in regelmäßigen Abständen und in Sichtweite zueinander auf dem Ring standen und mit deren Hilfe das Gelände überwacht werden konnte. Wenn man von den Stacheldrahtbarrieren in einigen Abschnitten absah, gab es keine weiteren Grenzbefestigungen. Kurz bevor er den zweiten Turm auf seiner Route erreicht hatte, blickte er erneut auf den Zettel, der auf dem Beifahrersitz neben ihm lag. »Turm 2: 3 Kisten«, stand dort oben auf der Liste. Der Schwebewagen senkte sich langsam zu Boden. Als er mit einer Metallkiste aus dem Laderaum zum Turm ging, sah ein Wächter auf der Beobachtungsebene zu ihm herab und verfolgte aufmerksam seine Schritte. Ständig mussten sich dort oben zwei von ihnen aufhalten, um nach Läufern Ausschau zu halten. Läufer, das waren jene Menschen, die versuchten, in das Sperrgebiet einzudringen oder wieder aus dem Sperrgebiet zu fliehen. Ein kleiner Schwebewagen war unmittelbar neben der Eingangstür geparkt. Der alte Wächter schob die Metallkiste durch eine Klappe in der Tür, wobei er von einem anderen durch ein Fenster beobachtet wurde. »Es kommen noch zwei weitere Kisten«, sagte der alte Wächter.
    »Hoffentlich ist auch unser Treibstoff dabei«, erwiderte der andere, führte seine Hand zum Mund und lachte. Vor mehr als zehn Jahren hatte der alte Wächter selbst in solch einem Turm gearbeitet, in dem es einen eigenen Wohnbereich mit einer kleinen Küche gab. Eine ganze Woche lang musste man dort mit fünf weiteren Kameraden auf engstem Raum ausharren, bevor eine freie Woche folgte. Man durfte den Turm nur verlassen, um Läufer festzunehmen, die in ein kleines Gefängnis in den Kellerräumen gebracht wurden, wo sie solange festgehalten wurden, bis aus der Südkaserne ein Transporter kam, um sie abzuholen. Geduldig hatte er diese Arbeit ertragen, ihre Eintönigkeit, das stundenlange, ereignislose Warten im Ausblick, gefolgt von der Langeweile im Wohnbereich. Früher stellte für ihn der enge Kontakt mit seinen Kameraden kein Problem dar, doch je älter er wurde, desto mehr verspürte er das Verlangen, sich von den anderen zurückzuziehen. Nachdem er die dritte Kiste ausgeliefert hatte, ging er etwas außer Atem zurück zum Wagen. In der Kiste hatten sich schwere Rohre für das turmeigene Wassersystem befunden, wohingegen in den beiden anderen Kisten zuvor Lebensmittel und Medikamente waren.
     
    Langsam glitt der Schwebewagen auf der Straße entlang, die einen Schwenk nach Norden gemacht hatte. Bäume und Sträucher zogen an den Seitenfenstern vorbei, nur unterbrochen vom Grau der Wachtürme. An einigen hielt er an, um seine Kisten auszuliefern. Er wusste die Vorzüge der Arbeit als Versorger zu schätzen, die Freiheit in seinem Wagen, vor allem aber die Ruhe auf dem Grenzstreifen, die so selten gestört wurde und es ihm ermöglichte,
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