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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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bis ein Streifenpolizist von links, wo Penningtons
Antiquariat war, ins Bild trat und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte.
    Nick erkannte die große, massige Gestalt und das helle,
sommersprossige Gesicht von Boots Jackson, dem Polizisten, dem dieses Viertel
zugeteilt worden war. Sie ließen die Aufnahme ein paar Male vor- und
zurücklaufen – ohne Ergebnis.
    Um 15:13:55 war Rainey Teague da.
    Um 15:13:56 war er weg.
    Er sprang nicht aus dem Bild, er warf sich nicht zur Seite, er
schnellte nicht hoch in die Luft, er verblasste nicht, er löste sich nicht in
einer Rauchwolke auf, er wurde nicht von einem Fremden weggerissen.
    Er verschwand einfach, als wäre er bloß ein digitales Abbild und als
hätte jemand auf die Taste ENTFERNEN gedrückt.
    Rainey Teague war einfach weg .
    Und er kehrte nicht mehr zurück.
    In den strapaziösen Tagen und Nächten, die nun folgten,
als das CID und die Streifenpolizisten von
Niceville und alle anderen, die abkömmlich waren, den Bundesstaat nach dem
Jungen absuchten, glaubte natürlich kein ernstzunehmender Polizist auch nur
eine Sekunde lang, dass das, was die Kamera aufgezeichnet hatte, die buchstäbliche
Wahrheit war und das Kind einfach nicht mehr existierte.
    Es musste irgendein Computerfehler sein.
    Oder ein Trick – etwas, das David Copperfield machen würde.
    Also nahm man sich das Überwachungssystem vor, das Moochie hatte
installieren lassen. Es wurde geprüft und getestet und nochmals getestet, man
suchte nach einem Fehler, nach irgendeinem Hinweis darauf, dass Moochie das
Ding manipuliert hatte, um eine simple Entführung zu vertuschen. Die ganze
Apparatur, ein teures System von Motorola, wurde zu einer gründlichen
forensischen Untersuchung an das FBI geschickt, doch man fand keinen
Fehler und kein Anzeichen dafür, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht
hatte.
    Dann kam Moochie selbst an die Reihe. Man unterzog ihn einer Reihe
von Verhören, die dem syrischen Geheimdienst alle Ehre gemacht hätten.
    Auch hier ergab sich kein Verdacht.
    Man nahm seinen Laden auseinander.
    Nichts.
    Man brachte Delia Cottons antiken Spiegel in ein Labor und
untersuchte ihn auf … Nun ja, man hatte keine blasse Ahnung, worauf er untersucht
werden sollte, aber ganz gleich, was man sich davon versprochen hatte – man
fand nichts. Es war bloß ein mittelgroßer antiker Spiegel mit dunklen Flecken,
einem verzierten, vergoldeten Rahmen und einer auf der Rückseite befestigten
handschriftlichen Büttenkarte:

    Man gab Uncle Moochie sein teures Überwachungssystem
zurück und entschuldigte sich vielmals. Mit dem Spiegel wollte er allerdings
nichts mehr zu tun haben, und so landete dieser in Nick Kavanaughs Wandschrank.
Danach nahm man Alf Penningtons Antiquariat auseinander, eine Maßnahme, die er
stoisch ertrug und als Beweis für die inhärente Brutalität des Imperiums
betrachtete. Man fand nichts.
    Man durchsuchte den Toonerville Hobbyshop.
    Nichts.
    Man sah sich sämtliche verfügbaren Bilder sämtlicher verfügbarer
Überwachungskameras entlang der North Gwinnett zwischen Bluebottle Way und Long
Reach Boulevard an.
    Keine einzige Spur.
    Nach neun schlaflosen Nächten war Nick Kavanaugh praktisch nicht
mehr Herr seiner Sinne, und so löste seine Frau Kate, eine Familienanwältin,
auf Drängen von Tig Sutter schließlich ein paar Valium in seinem Orangensaft
auf und packte ihn ins Bett, wo er zwölf Stunden lang schlief wie ein Toter.
    Während Nick schlief, rief Kate nach kurzem inneren Kampf
ihren Vater an. Dillon Walker war Professor für Militärgeschichte am Virginia
Military Institute im Shenandoah-Tal. Es war schon spät, aber Walker, der
verwitwet war und allein in einer Institutswohnung am Rand des Exerzierplatzes
lebte, meldete sich nach dem zweiten Läuten. Kate hörte seine leise, warme
Bassstimme und wünschte wie so oft, ihr Vater würde nicht so weit von Niceville
entfernt wohnen und ihre Mutter Lenore, die große Liebe ihres Vaters, wäre
nicht vor fünf Jahren bei einem schlimmen Unfall auf der Interstate ums Leben
gekommen. Seit damals war ihr Vater nicht mehr derselbe. Er hatte etwas
Wichtiges verloren, sein liebenswertes Feuer war erloschen. Doch er war wach
und aufmerksam genug, um die Anspannung in ihrer Stimme zu hören.
    »Kate … wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung?«
    »Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, Dad. Hab ich dich
geweckt?«
    Walker saß in seinem Ledersessel. Er hatte nicht geschlafen, aber er
war tatsächlich über James Morris’
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