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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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den größten Teil des Tages.
Nick war die ganze Zeit dabei, abgezehrt und vollgepumpt mit Amphetaminen. Er
blieb bis etwa sechs Uhr abends dort. An diesem Abend, dem Abend des zehnten
Tages, bekam er einen Anruf von Mavis Crossfire, die ihm sagte, man habe Rainey
Teague gefunden.
    Als Nick am Friedhof für die konföderierten Soldaten bei
Garrison Hills eintraf, ging gerade die Sonne unter. Polizeiwagen waren an
einem kleinen Erdhaufen neben einem der gewundenen Wege geparkt, die sich den
Abhang hinaufschlängelten, vorbei an Hunderten weißer Steinkreuze und ein paar
Davidsternen, und zum sogenannten New Hill führten, jenem Teil des
Bürgerkriegsfriedhofs, der für die prominenteren Zivilisten in der Geschichte
Nicevilles reserviert war.
    Dort standen etwa fünfzig kleine Tempel im klassizistischen Stil.
Die meisten waren Familiengrüfte, und in die Türstürze waren Namen wie HAGGARD und TEAGUE , COTTON und WALKER , GWINNETT und MULLRYNE , MERCER und RUELLE eingemeißelt.
    Jede Gruft war aus Marmorblöcken erbaut und mit einer soliden
Eichentür verschlossen, die zusätzlich mit einem Eisengitter gesichert war. Der
Boden war hier sehr steinig, und so bestanden einige der unauffälligeren Grüfte
aus tief in die Erde eingelassenen Kammern, die mit roten Ziegeln ausgekleidet
und mit einer Marmor- oder Granitplatte abgedeckt waren. Ringsum hatte man Erde
zu einem flachen Hügel aufgeworfen. Eine solche Gruft war nur durch eine
niedrige Öffnung am einen Ende zugänglich, durch die man einen Sarg
hineinbringen konnte, doch diese war selbstverständlich mit einem Gitter
versehen und stets verschlossen.
    Die anderen Polizisten standen um einen dieser Hügel herum und sahen
zwei Feuerwehrmännern zu, die die Deckplatte der Gruft mit Vorschlaghämmern
bearbeiteten. Nick hörte die dumpfen Schläge und sah im Licht der
Autoscheinwerfer und Arbeitslampen, die man aufgestellt hatte, Staub
aufstieben.
    Alle drehten sich um, als Nick seinen Crown Vic am Fuß des Hangs
abstellte und langsam hinaufging. Mavis Crossfire löste sich aus der Gruppe.
Nick sah auch die hochgewachsene Gestalt und den Marine-Corps-Haarschnitt von
Marty Coors, der die anderen überragte und Nick mit finsterem, hartem Gesicht
entgegensah.
    »Nick«, sagte Mavis, ging ihm entgegen und gab ihm die Hand. »Er ist
hier.«
    Nick sah an ihr vorbei zu dem flachen Hügel und den Männern, die mit
Hämmern auf Ziegel und Marmor einschlugen.
    »Er ist da drin? Woher wollt ihr das wissen? Die Gruft da ist seit
über hundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Wie alle anderen übrigens. Die
Schlösser sind verrostet. Die Gitter stecken halb in der Erde, und alles ist
überwuchert.«
    »Ja, das stimmt. Das stimmt vollkommen. Nick? Alles in Ordnung?«
    Nick sah sie an.
    »Nein, verdammt, es ist nicht alles in Ordnung. Bei dir vielleicht?«
    Mavis bedachte ihn mit einem Lächeln, das sich in eine Grimasse
verwandelte.
    »Nein. Bei mir auch nicht. Bei uns allen nicht. Woher wir wissen,
dass er da drin ist? Wir können ihn hören .«
    Nick sah sie lange an.
    Mavis nickte. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch sie war bleich, und
in ihren Augen war etwas Gehetztes.
    »Ja, du hast richtig gehört. Ich wollte es dir am Telefon nicht
sagen, damit du nicht unterwegs hierher einen Unfall baust. Der
Friedhofsgärtner hat heute Nachmittag was gehört. Es klang wie ein Vogel, aber
dann doch wieder nicht. Er ist dem Geräusch bis zu dieser Gruft hier
nachgegangen.«
    »Wer liegt da?«
    »Ein Typ namens Ethan Ruelle. 1921 gestorben. Bei einem Duell am
Weihnachtstag – das ist jedenfalls das, was der Friedhofsgärtner sagt. Einer
von der Feuerwehr hat einen Geräuschsensor. Den setzen sie bei eingestürzten
Gebäuden ein. Er hat das Ding auf die Deckplatte gelegt, und wir alle konnten
es genau hören.«
    »Was hören?«
    »Ein Kind. Ein weinendes Kind.«
    Nick sah sie an, dann an ihr vorbei zu den arbeitenden Männern, den
herumstehenden Polizisten, dem Krankenwagen im Hintergrund, dessen
Signallichter rot und blau leuchteten und ein hektisches Flackern über den
Friedhof warfen.
    »Das ist ein Trick«, sagte er schließlich und spürte Wut in sich
aufsteigen. »Diese ganze Sache war nichts als ein Scheißtrick. Jemand verarscht
uns, Mavis. Das Ganze ist bloß ein verdammter Taschenspielertrick.«
    »Wenn es ein Trick ist, dann ist es ein verdammt guter«, sagte Mavis
in beruhigendem Ton. »Der Feuerwehrmann hat auf die Deckplatte geklopft, und
das Weinen ist schlimmer geworden.
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