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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Eine Eisschicht; sie fühlt sich rau an auf meinem Gesicht, aber nicht kalt. Da ist nichts, an dem ich mich festhalten könnte, meine Handschuhe rutschen immer wieder ab. Über mir sehe ich Menschen herumrennen, aber sie können nichts tun. Ich versuche, mit den Fäusten gegen das Eis zu hämmern, aber meine Arme bewegen sich wie in Zeitlupe, und meine Lunge ist offenbar geplatzt, und mir wird schwindlig, und es ist, als würde ich mich auflösen …
    Mit einem Schrei erwache ich. Mein Herz rast wie verrückt. Herr im Himmel. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf den Bettrand.
    Daran habe ich mich bislang nicht erinnern können. Ich wusste nur noch, wie ich durch das Eis gebrochen war; der Arzt sagt, mein Verstand habe den Rest verdrängt. Jetzt kann ich mich erinnern, und es ist der schlimmste Albtraum, den ich je hatte.
    Zitternd umklammere ich die Daunendecke. Ich versuche, mich zu beruhigen, langsam zu atmen, doch ich schluchze fortwährend. Es war so real, ich habe es wirklich gefühlt, habe erlebt, wie sich Sterben anfühlt.
    Fast eine Stunde war ich dort im Wasser; als sie mich herausholten, war ich beinahe hirntot. Bin ich wieder gesund? Es ist das erste Mal, dass man hier im Krankenhaus das neue Medikament jemandem mit so schwerem Hirnschaden gegeben hat. Hat es gewirkt?
    Immer wieder derselbe Albtraum. Nach dem dritten Mal weiß ich, dass ich nicht mehr schlafen werde. Die Stunden bis zum Morgengrauen grüble ich unablässig. Ist das nun das Ergebnis? Verliere ich den Verstand?
    Morgen ist meine wöchentliche Untersuchung beim Stationsarzt. Hoffentlich hat er ein paar Antworten für mich.
    Ich fahre in die City von Boston, und nach einer halben Stunde bin ich bei Dr. Hooper. Hinter einem gelben Vorhang sitze ich auf einer Liege im Behandlungszimmer. Aus der Wand ragt auf halber Höhe ein Breitbildschirm, der auf Tunnelblick eingestellt ist, sodass ich aus meinem Blickwinkel nichts darauf sehen kann. Der Arzt tippt auf der Tastatur herum – wahrscheinlich ruft er meine Patientendatei auf – und beginnt dann mit der Untersuchung. Als er mit einer Stablampe in meine Pupillen hineinleuchtet, berichte ich ihm von den Albträumen.
    »Hatten Sie vor dem Unfall schon Albträume?« Er holt sein kleines Hämmerchen heraus und klopft mir gegen Ellbogen, Knie und Fußknöchel.
    »Nein, nie. Ist das eine Nebenwirkung des Medikaments?«
    »Nein. Durch die Hormon-K-Therapie haben sich viele beschädigte Neuronen regeneriert, und das ist eine gewaltige Veränderung, an die sich Ihr Gehirn erst gewöhnen muss. Die Albträume sind vermutlich ein Symptom davon.«
    »Bleibt das so?«
    »Eher nicht«, sagt er. »Sobald Ihr Gehirn sich daran gewöhnt hat, dass ihm wieder alle Nervenbahnen zur Verfügung stehen, werden die Träume aufhören. Jetzt berühren Sie mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze und danach meinen Finger hier.«
    Ich tue, was er mich geheißen hat. Als Nächstes lässt er mich mit einem Finger nach dem anderen rasch meinen Daumen berühren. Anschließend soll ich wie bei einem Alkoholtest eine gerade Linie gehen. Danach beginnt er mit seinen Fragen.
    »Zählen Sie auf, woraus ein Schuh besteht.«
    »Die Sohle, der Absatz, die Schnürsenkel. Ähm, die Löcher, durch die man die Schnürsenkel führt, heißen Ösen, und dann gibt es unter den Schnürsenkeln noch die Zunge …«
    »Okay. Wiederholen Sie diese Ziffern: drei neun eins sieben vier …«
    »… sechs zwei.«
    Das hat Dr. Hooper nicht erwartet. »Was?«
    »Drei neun eins sieben vier sechs zwei. Diese Zahlen haben Sie schon bei meiner Einlieferung benutzt, als Sie mich zum ersten Mal untersucht haben. Wahrscheinlich verwenden Sie sie oft bei Patienten.«
    »Sie hätten sie nicht auswendig lernen müssen. Damit testen wir das Ultrakurzzeitgedächtnis.«
    »Ich habe sie nicht auswendig gelernt, ich habe sie mir nur zufällig gemerkt.«
    »Wissen Sie noch die Ziffern von der zweiten Untersuchung?«
    Ich schweige kurz. »Vier null acht eins fünf neun zwei.«
    Er ist überrascht. »Die meisten Menschen können sich so viele Ziffern nach einmaligem Hören nicht merken. Benutzen Sie irgendwelche Eselsbrücken?«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein. Telefonnummern speichere ich immer im Telefon.«
    Er geht zum Terminal und tippt auf dem Nummernblock herum. »Versuchen Sie es damit.« Er liest eine aus vierzehn Ziffern bestehende Zahl vor, und ich wiederhole sie. »Meinen Sie, Sie können das auch rückwärts?« Ich sage die Ziffern in umgekehrter
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