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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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sie so da. Ihre leichte Besorgnis verwandelte sich erst
in Verärgerung und nach weiteren drei Minuten in ernstere Sorge, aber noch
nicht in Panik.
    Sie ging wieder ins Haus, griff zu dem Telefon auf der antiken
    Anrichte neben dem Eingang und drückte die Schnellwahltaste 3. Sie hörte einen
Rufton nach dem anderen, und mit jedem nahm ihre Sorge ein wenig zu. Nach dem
fünfzehnten legte sie auf.
    Sie drückte die »Beenden«-Taste und dann die Schnellwahltaste 4, um
das Sekretariat der Regiopolis School anzurufen. Nach dem dritten Läuten meldete
sich Father Casey, der ihr bestätigte, Rainey habe die Schule um zwei Minuten
nach drei verlassen, zusammen mit dem üblichen Lemmingstrom aus lärmenden
Jungen in grauen Hosen, weißen Hemden und blauen Blazern mit dem in Gold
gestickten Schulwappen auf der Brusttasche.
    Father Casey hörte sogleich die Dringlichkeit in ihrer Stimme und
sagte, er werde zu Fuß Raineys Heimweg entlang der North Gwinnett bis zum Long
Reach Boulevard gehen.
    Sie tauschten die Handynummern aus, und dann nahm Sylvia die Wagenschlüssel,
ging die Stufen zur Doppelgarage hinunter – ihr Mann Miles, ein
Investmentbanker, war noch in seinem Büro in Cap City – und stieg in ihren
roten Porsche Cayenne; Rot war ihre Lieblingsfarbe. Als sie durch die
gepflasterte Einfahrt rückwärts auf die Straße setzte, war in ihrem Kopf nur
weißes Rauschen, und ihre Brust war wie von Stacheldraht eingeschnürt.
    Auf der North Gwinnett entdeckte sie Father Casey inmitten des
Gewimmels dahinschlendernder Menschen, eine schwarz gekleidete Gestalt mit
einem Priesterkragen, über eins achtzig groß und mit der Statur eines
Footballspielers. Sein Gesicht war besorgt gerötet.
    Sie hielt an und ließ das Fenster herunter. Sie berieten sich kurz.
Wagen fuhren vorbei, Passanten sahen neugierig herüber: ein gutaussehender,
etwas erhitzter junger Jesuit, der leise und eindringlich auf eine sehr hübsche
Frau mittleren Alters in einem roten Cayenne einredete.
    Am Ende dieser Besprechung stieß Father Casey sich vom Wagen ab und
machte sich daran, jede Gasse und jeden Park zwischen der Schule und Garrison
Hills abzusuchen. Sylvia Teague griff zu ihrem Handy, atmete tief durch, sprach
in Gedanken ein Stoßgebet an den heiligen Christophorus und rief die Polizei
an. Man sagte ihr, sie solle sich nicht von der Stelle rühren – man werde
sofort einen Streifenwagen schicken.
    Und so saß sie in dem nach Leder riechenden Cayenne und starrte
hinaus auf den Verkehr entlang der North Gwinnett, sie versuchte, an nichts zu
denken, während sich rings um sie her der Alltag von Niceville abspielte, einer
verschlafenen Stadt in den Südstaaten, wo sie seit ihrer Geburt lebte.
    Die Regiopolis School und dieser Teil der North Gwinnett lagen tief
im grünen Herzen von Niceville. Es war ein altmodisches Stadtzentrum, fast
durchgehend beschattet von großen, alten Eichen, deren dicke Äste durch
zahllose Stromkabel miteinander verbunden waren.
    Der Tulip floss breit und gewunden durch das Zentrum, seine glatte
braune Oberfläche glitzerte im Sonnenlicht. Überall am Ufer blühten Magnolien
und Bougainvilleen.
    Die meisten Gebäude waren im Stil der Jahrhundertwende gebaut, aus
roten Ziegeln und mit Messingverzierungen. Sie standen in breiten, schattigen,
gepflasterten Alleen mit gusseisernen Straßenlaternen.
    Marineblau und goldfarben lackiert, so schwer wie Panzer, rollten
die Straßenbahnen am Cayenne vorbei und ließen das Lenkrad unter Sylvias Hand
erbeben. Sie betrachtete das sanfte goldene Licht, den feinen Dunst aus Pollen
und Flussnebel, der immer über der Stadt zu liegen schien: Er nahm den Kanten
die Schärfe und verlieh Niceville das Aussehen und Lebensgefühl einer früheren,
anmutigeren und würdevolleren Zeit. In einer so hübschen Stadt, sagte sie sich,
konnte doch gar nichts Schlimmes passieren, oder?
    Tatsächlich hatte Sylvia schon immer gefunden, dass Niceville eines
der schönsten Städtchen im ganzen tiefen Süden hätte sein können, wenn es nicht
aus irgendeinem unerfindlichen Grund im langen Schatten von Tallulah’s Wall
erbaut worden wäre, einem riesigen Kalksteinfelsen, der den Nordostteil der
Stadt überragte. Sie konnte ihn von dort, wo sie jetzt war, sehen: eine gelbe,
mit Ranken und Moos bewachsene Wand, so hoch und breit, dass bestimmte Viertel
im Osten der Stadt erst nachmittags von der Sonne beschienen wurden. Oben auf
dem Felsen standen uralte Bäume um ein kreisrundes, mit kaltem schwarzem
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