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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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privates Kreditinstitut
bezeichnete, war einst, in den dreißiger Jahren, ein reich verzierter
Friseursalon gewesen, und auf dem Glas der Scheibe waren die goldenen Lettern
des bogenförmigen Schriftzugs SULLIVAN’S TONSORIAL ACADEMY noch
immer schwach zu erkennen, doch das Schaufenster war bis zur Decke vollgestellt
mit antiken Standuhren, Spiegeln mit vergoldeten Rahmen, Taschenuhren,
Porzellanfiguren von Schoßhündchen, verrosteten Art-déco-Lampen, Medaillons,
Broschen und allerlei Talmi-Schmuck, dass es aussah wie eine Schatzkiste in
einem Comic. Dass ein Zehnjähriger ein solches Schaufenster faszinierend fand,
konnte Nick verstehen.
    Laut den von Boots Jackson aufgenommenen Aussagen stand Nick genau
an der Stelle, wo man den Jungen zuletzt gesehen hatte.
    An den Geschäften weiter unten war Rainey nicht vorbeigekommen,
obwohl er sonst regelmäßig bei Scoops in der nächsten Häuserzeile
hereingeschaut hatte und in dem kleinen Park an der Kreuzung North Gwinnett und
Bluebottle Way oft auf den Sockel der Bronzestatue des konföderierten Soldaten
geklettert war.
    Heute nicht.
    Soweit die uniformierten Kollegen es hatten feststellen können, war
diese Stelle vor Uncle Moochies Schaufenster der Punkt, an dem Rainey Teague
gestanden hatte, als … als irgendetwas passiert war.
    In
einer Pfandleihe gibt’s eine Überwachungskamera , dachte er. Und
da war sie, links oben, und blinkte mit ihrem roten Auge zu ihm hinunter.
    Moochie, ein missmutiger Libanese mit einem schlaffen Gesicht voller
Kummer und Tücke, war einst ein Mann von gewaltiger Leibesfülle gewesen, doch
nun ließ ein schweres Darmgeschwür ihn schrumpfen wie einen Luftballon. Er war
ein polizeibekannter Hehler, aber auch einer von Nicks besten Informanten und
sogleich bereit, Nick das Video der Überwachungskamera zu zeigen. Er führte ihn
durch ein Chaos aus Pappkartons und Verpackungen in das Hinterzimmer des
Ladens, einen Büroraum, in dem es nach Schweiß und Haschisch roch, wo er einen
Schrank öffnete, in dem sich ein Monitor verbarg, und ein paar Tasten auf einer
Tastatur drückte.
    »Ist alles digital und wird nach vierundzwanzig Stunden
überschrieben, wenn ich keinen anderen Befehl gebe«, sagte Moochie. Die Bilder
bewegten sich rückwärts, und in der unteren rechten Ecke des Bildschirms
flackerten die Ziffern der digitalen Zeitanzeige.
    Sie standen in Moochies beengtem Büro und sahen, wie sich die
Menschen auf dem Bürgersteig vor dem Laden ruckartig bewegten, während die
Sekunden zurückschnurrten. Nachdem eine Minute und achtunddreißig Sekunden
zurückgespult waren, sah Nick sich selbst auf dem Bürgersteig stehen und zur
Kamera hinaufsehen, und dann ging er rückwärts nach links aus dem Bild. Der
Zeitmarker bewegte sich und mit ihm die Leute auf dem Bildschirm, steif und
eigenartig wie in einem alten Stummfilm, als wären sie Geister aus einer fernen
Vergangenheit.
    Nick war sehr bewusst, dass Moochie neben ihm stand, und eine
Zeitlang fragte er sich, ob nicht vielleicht Moochie selbst das Letzte gewesen
war, was Rainey Teague gesehen hatte.
    War Rainey in den Laden gegangen?
    Und wenn ja, was war dann geschehen?
    War er jetzt im ersten Stock oder im Keller?
    Das nächste Geschäft war Toonerville, ein Hobbyladen mit einer
großen Modelleisenbahn im Schaufenster: Der Zug fuhr durch eine Miniaturversion
von Niceville, akkurat nachgebaut bis hin zu der aufragenden Felswand von
Tallulah’s Wall. Rainey war sonst immer hineingegangen und hatte sich mit Mrs
Lianne Hardesty, der Besitzerin, unterhalten. Rainey war dort stets gern
gesehen, doch heute war er nicht gekommen.
    Moochie?
    Nick war nie irgendetwas Eigenartiges über Moochie zu Ohren
gekommen, kein Hinweis auf etwaige Neigungen, Kindern an die Wäsche zu gehen
oder dergleichen, und seine Polizeiakte war zwar nicht gerade erbaulich, enthielt
aber nichts, was auf irgendwelche wie auch immer gearteten sexuellen Impulse
hindeutete.
    Aber man konnte nie wissen.
    Moochie grunzte, drückte eine Taste, und das Bild fror bei 15:09:22
ein. Da war Rainey Teague. Er trat gerade ins Bild – man sah ihn von rechts
oben, so dass er kleiner aussah, als er eigentlich war. Moochie blickte zu
Nick, der nickte, und Moochie drückte eine andere Taste. Der Film lief langsam
und Bild für Bild weiter. Raineys Gestalt ruckte in den Bildmittelpunkt und sah
genau so aus, wie Alf Pennington ihn beschrieben hatte. Der
Harry-Potter-Rucksack hing über der einen Schulter und war so schwer, dass er
den
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