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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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Oberkörper nach links zog.
    Nicks Puls beschleunigte sich, als er den Jungen dort stehen sah. Er
spürte einen Schatten dessen, was die Eltern jetzt fühlen mussten, doch selbst
der Schatten dieses Entsetzens war kalt und scharf.
    Rainey kam kurz vor dem Schaufenster zum Stehen. Er beschattete die
Augen und starrte auf den Piratenschatz, und einmal legte er sogar die
Stupsnase an das Glas, so dass sie komisch plattgedrückt wurde und sein Atem
die Scheibe beschlug. Hinter ihm gingen Passanten durchs Bild, aber keiner
beachtete ihn.
    »Halt mal an«, sagte Nick.
    Er beugte sich vor, um das Gesicht des Jungen zu studieren. Rainey
schien vollkommen versunken, er starrte auf etwas in der Auslage, und was immer
es war – es faszinierte ihn.
    Er war erstarrt, versteinert, als stünde er unter einem Bann.
    Wessen
Bann?
    »Ist er mal in den Laden gekommen?«
    Moochie schüttelte den Kopf.
    »Ich lass die von der Regiopolis nicht rein. Das sind alles kleine
Ali Babas. Wie die Straßenkinder in Beirut.«
    »Weißt du, was er sich da angesehen hat? Egal, was es ist – es hat
ihn jedenfalls sehr interessiert.«
    »Es muss der Spiegel gewesen sein«, sagte Moochie und musterte den
Jungen auf dem Bild. »Da, wo er steht, ist er direkt vor dem Spiegel. Er sieht
genau hinein. Das ist der mit dem vergoldeten Rahmen. Der ist sehr alt, von vor
dem Krieg. Dem Bürgerkrieg, meine ich. Er stammt aus Temple Hill, dem alten
Herrenhaus der Cottons, oben in The Chase. Delia Cotton hat ihn ihrer
Haushaltshilfe geschenkt, die heißt Alice Bayer und lebt in The Glades, und
Alice kam eines Tages damit an und wollte fünfzig Dollar dafür. Ich hab ihr
zweihundert gegeben, obwohl das Ding tausend wert ist. Den Pfandbeleg hab ich
noch. Ich glaube, der Junge hat sich einfach gern im Spiegel gesehen. Er stand
jedenfalls immer da, genau so, direkt davor. Und dann hat er sich ein bisschen
geschüttelt und ist weitergegangen. Das Glas ist mit der Zeit wellig geworden,
und ich schätze, das fand er irgendwie komisch.«
    Nick machte eine Geste, und Moochie ließ die Bilder wieder eins nach
dem anderen vorwärtslaufen. Nick starrte darauf und suchte nach irgendetwas,
einem Anhaltspunkt. Um 15:13:54 bewegte Rainey den Kopf nach hinten und riss
den Mund auf. Um 15:13:55 machte er mit dem linken Bein einen Schritt zurück,
und der Mund öffnete sich weiter.
    Um 15:13:56 war er nicht mehr da.
    Auf dem Bildschirm war nur ein leeres Stück Bürgersteig zu sehen.
    Rainey war verschwunden.
    »Liegt das an der Kamera?«, fragte Nick.
    Moochie starrte auf den Bildschirm.
    Nick wiederholte die Frage.
    »Nein. Das hat sie noch nie gemacht. Das System ist nagelneu. Hab’s
erst letztes Jahr von Securicom installieren lassen. Hat mich dreitausend Dollar
gekostet.«
    »Noch mal zurück.«
    Moochie ließ den Film Bild für Bild zurücklaufen.
    Dasselbe.
    Das erste Bild: Rainey ist nicht da.
    Ein Bild zurück: Da ist er.
    Er macht mit dem linken Bein einen Schritt zurück, sein Mund ist
weit offen.
    Noch ein Bild zurück: Jetzt ist er dicht am Fenster, aber er beginnt
bereits …
    Was
tut er?
    Er
weicht zurück?
    Vor
was?
    Vor
etwas, das er im Spiegel sieht?
    Oder
vor etwas, das hinter ihm ist und sich spiegelt? Was zum Teufel ist hier
passiert?
    »Wie wird diese Aufnahme gespeichert?«
    »Auf der Festplatte«, sagte Moochie und starrte noch immer auf den
Schirm.
    »Kann man die ausbauen?«
    Moochie sah auf.
    »Ja, aber –«
    »Ich brauche sie. Nein, Moment – ich brauche das ganze System. Hast
du einen Ersatz?«
    Moochie war von dieser Entwicklung wenig begeistert.
    »Ich hab noch die alte Kamera mit dem Videogerät.«
    »Zeig mir die Szene nochmal. Lass sie einfach durchlaufen.«
    Moochie drückte die entsprechenden Tasten.
    Sie sahen Rainey Teague hakelig ins Bild kommen. Er beugte sich zur
Schaufensterscheibe und verharrte, sein Gesicht verriet eine immer größere
innere Spannung, er brachte es immer näher an die Scheibe, bis er die Nase
daran presste und sie von seinem Atem beschlug.
    Dann das Zurückweichen.
    Er trat einen Schritt zurück.
    Und … war verschwunden.
    Die Aufnahme lief weiter. Sie standen da und starrten, wie
festgenagelt, und angesichts der absoluten Unbegreiflichkeit des Geschehens
lief es ihnen kalt den Rücken hinunter. Sie sahen immer dasselbe Stück
Bürgersteig, schlendernde Füße, hin und wieder ein vorbeigewehtes Stück Papier
oder den Schatten eines Vogels und im Hintergrund Passanten, die ruhig ihrer
Wege gingen.
    Sie spulten vor,
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