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Niceville

Niceville

Titel: Niceville
Autoren: Carsten Stroud
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Pax Britannica eingenickt, einem Buch über
das britische Weltreich unter Königin Victoria. In Kates Stimme war ein leises
Beben, wie immer, wenn sie sich Sorgen machte.
    »Nein, mein Schatz. Ich habe noch gelesen. Du klingst besorgt. Ist
was mit Beth? Oder Reed?«
    Beth war Kates ältere Schwester. Sie steckte in einer katastrophalen
Ehe mit einem ehemaligen FBI -Agenten namens Byron Deitz, den
alle in der Familie von Herzen verabscheuten. Ihr Bruder Reed war bei der State
Police und fuhr einen speziell für Verfolgungsjagden ausgelegten Wagen. Er war
ein kantiger junger Mann, der nichts lieber tat, als Raser zu stellen.
    »Nein, Dad. Es geht um Nick.«
    »Du lieber Himmel, er ist doch nicht etwa verletzt?«
    »Nein, nein. Ihm ist nichts passiert. Ich habe ihm ein paar Valium
in Orangensaft aufgelöst, damit er mal schlafen kann. Er ist jetzt oben, im
Bett. Seit Tagen arbeitet er ununterbrochen an einem Fall. Er ist fix und
fertig.«
    Sie hielt inne, als wüsste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Walker
beugte sich vor, stocherte in der Glut des Kaminfeuers, bis ein paar gelbe
Flammen aufflackerten, lehnte sich wieder zurück und griff nach seinem Scotch.
Er schmeckte ein wenig abgestanden, aber noch immer nach Laphroaig.
    Er hörte Kate atmen und stellte sich vor, wie sie in dem alten Haus
der Familie Walker auf der Veranda saß: eine schlanke junge Frau mit
kastanienbraunem Haar und zarter, heller Haut, einem fein geschnittenen,
eleganten Gesicht und saphirblauen Augen – das Ebenbild ihrer Mutter. Er nippte
abermals an seinem Glas und stellte es ab.
    »Du klingst, als wolltest du mich etwas fragen, Kate. Hat es mit
Nicks Fall zu tun?«
    Schweigen.
    »Ich glaube schon, Dad. Es ist wieder jemand verschwunden.«
    Sie hörte, dass der Atem ihres Vaters kurz stockte, und wusste, dass
sie ein heikles Thema angeschnitten hatte. Vor einigen Jahren hatte ihr Vater
eigene Nachforschungen über die zahlreichen Entführungsfälle in Niceville
betrieben, das Projekt nach dem Tod seiner Frau jedoch abrupt eingestellt, es
nie wieder aufgenommen und das Thema seither immer geschickt vermieden. Als er
jetzt sprach, klang seine Stimme so warm wie immer, wenn auch vielleicht etwas
wachsamer.
    »Verstehe. Ich nehme an, das ist es, was Nick nicht schlafen lässt.
War es wirklich eine Entführung? Wie die anderen?«
    »Bisher scheinen sie das zu denken. Ich würde dir gern davon
erzählen. Darf ich?«
    »Natürlich, Kate. Wenn ich irgendwie helfen kann.«
    Kate erzählte ihm, was man bisher wusste: von Rainey Teague, der auf
dem Heimweg von der Schule verschwunden war, von Moochies Pfandleihe, der
Überwachungskamera und davon, dass der Junge sich einfach in Luft aufgelöst
hatte. Walker hörte zu und spürte, dass es ihm die Kehle zuschnürte.
    »Der Junge heißt Teague? Doch nicht etwa Sylvias Sohn?«
    »Doch, Dad.«
    »O Gott. Wie furchtbar. Wie geht es ihr?«
    »Sehr schlecht. Sie verliert den Boden unter den Füßen.«
    »Und Miles?«
    »Du kennst doch Miles. Er ist ein typischer Teague, und die haben
alle diesen kalten Kern. Aber auch er wird mit jedem Tag stiller. Die beiden
haben die Hoffnung aufgegeben.«
    »Und wer ist an dem Fall dran?«
    »Praktisch alle. Die Polizei von Belfair und Cullen County, die
State Police und die Leute vom FBI in Cap City.«
    »Und gibt es irgendwelche Hinweise?«
    »Nichts. Absolut nichts.«
    Schweigen.
    Dann sagte er mit gezwungener Ruhe: »Ist irgendetwas … Anomales passiert?«
    »Anomal? Wie meinst du das?«
    »Ich weiß es nicht. Du fragst mich, weil ich eine Zeitlang darüber
nachgeforscht habe, aber im Grunde weiß ich heute nicht mehr als damals. Darum
habe ich ja damit aufgehört. Weil es sinnlos war.«
    »Du hast damit aufgehört, als Mom gestorben ist, Dad.«
    Wieder schwieg er.
    Sie wartete.
    Sie war ihm zu nahe getreten, das wusste sie, aber sie wusste auch,
dass sie sein Liebling war und immer eine besondere Verbindung zu ihm gehabt
hatte.
    »Mit anomal meine ich alles, was schwer zu erklären ist.«
    »Abgesehen von der Tatsache, dass Rainey sich vor der Linse einer
Überwachungskamera in Luft aufgelöst hat?«
    »Vor Moochies Pfandleihe, stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Du sagst, er hat vor dem Schaufenster gestanden und hineingesehen?«
    »Ja.«
    »Was hat er da gesehen?«
    »Einen Spiegel.«
    Ihr Vater schwieg, doch sie spürte seine Anspannung – es war wie ein
Summen in der Leitung. »Was für einen Spiegel?«
    »Einen alten. Moochie sagt, er ist von vor dem Bürgerkrieg.
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