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Verführt: Roman (German Edition)

Verführt: Roman (German Edition)

Titel: Verführt: Roman (German Edition)
Autoren: Teresa Medeiros
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Prolog
     
    London
1780
    Der Schrei seiner Mutter durchschnitt die Schwärze der Nacht.
    Doch gegen den Tumult vor der winzigen Hütte, das Geratter der Kutschen, die kreischenden Straßenhändler und die gurrenden Huren kam der verzweifelte Laut nicht an. Der Junge hatte sich neben einen Berg Decken zusammengekauert und hielt seiner Mutter eine verrostete Schöpfkelle an die Lippen. Brackiges Wasser lief ihr Kinn hinunter.
    »Ist ja gut, Mama. Trink ein bisschen«, drängte er.
    Während sie sich bemühte, einen Schluck zu nehmen, zuckte des Burschen nervöser Blick zu ihrem geblähten Unterleib, dessen aufgedunsene Masse einen obszönen Kontrast zum ausgemergelten Gesicht und den vorstehenden Rippen bildete.
    Sie ist zu alt, dieses Kind zu bekommen, dachte er benommen. Fast einen Monat über achtundzwanzig. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Hand, als eine neue Schmerzattacke sie schüttelte. Die Schöpfkelle entglitt ihm. Er biss die Zähne zusammen, um seinen eigenen Schmerzensschrei zu unterdrücken, hielt fest ihre Hand und kämpfte gegen die entmutigende Litanei an, die sogar die Schreie übertönte. Zu alt. Zu dünn. Zu arm.
    Als sie in eine erschöpfte Ohnmacht fiel, lösten sich ihre Finger. Ihr Schweigen ängstigte den Jungen mehr, als ihre Schreie es getan hatten. Als hätte sie das letzte bisschen klägliche Hoffnung aufgegeben. Er wollte sie gerade wachrütteln, als hinter ihm die Tür aufflog.
    Ein Mann stolperte herein. Ein Matrose, nach der zerknitterten Uniform zu schließen. »Molly!«, röhrte er los, der Atem nach Gin stinkend. »Wo ist denn mein hübsches Frauchen?«
    Der Junge sprang auf. »Raus mit dir, verdammt. Du hast kein Recht hereinzutrampeln, als wärst du hier daheim.«
    Der Junge erschrak über seine eigene Wut. Der Mann war vielleicht sogar der Kindsvater. Dann traf ihn die bittere Erkenntnis, dass dafür wohl ein Dutzend Männer in Frage kamen.
    Der Seemann blinzelte ihn verdutzt an. Der Gin schien ihn allerdings mehr zu verwirren als der Wutausbruch des Jungen. »Lass den Unsinn, Bürschlein. Ich war zehn Monate auf See und hab die ganze Zeit kein Mädel geküsst.«
    Er hob die Faust und schubste den Jungen aus dem Weg. »Kein Grund, eifersüchtig zu sein, Bürschlein. Ist genug Platz zwischen Schenkeln, die so willig sind wie Mollys.«
    Sinnloser Zorn färbte alles scharlachrot. Der Junge griff ohne nachzudenken nach dem Messer, das Mutter ihm hingelegt hatte, um die Nabelschnur durchzuschneiden. Seine Ohren dröhnten vom Grunzen und Ächzen der Männer, die Mutter in ihr Bett gelassen hatte, um seinen hungrigen Mund zu stopfen.
    Er schwang das Messer wie ein Schwert. »Raus mit dir, Matrose«, zischte er gefährlich. »Bevor ich dir noch den Schlund aufschlitze.«
    Ernüchtert vom furchtlosen Blick des Jungen, ließ der Matrose die Faust sinken. Seit über zwanzig Jahren fuhr er nun mit der Royal Navy zur See. Ein erfahrener Seemann, der in die Tod spuckenden Kanonen der Franzosen geschaut hatte und so manchem Piratenschiff begegnet war. Doch jetzt zuckte seine Nase, als röche sie schon das eigene Blut auf dem Boden der Kammer.
    Bevor er noch den Rückzug antreten konnte, drang ein heiseres Wimmern aus der dunklen Ecke hinter dem Jungen. Ein Wimmern, das mehr nach einem Tier als nach einem Menschen klang. Der Junge schoss herum und fiel neben den zerwühlten Decken auf die Knie. Über seine schmalen Schultern erheischte der Matrose einen Blick auf ein Paar eingesunkener Wangen, auf starre Augen und die qualvollen Zuckungen eines aufgedunsenen Leibs.
    Sein Magen rebellierte. Die meisten seiner Kumpel gierten darauf, ihren Samen zu verteilen, waren aber allzu gern unter vollen Segeln, wenn er fruchtete. Er schlug die Hand vor den Mund und stolperte hinaus aus dem Drecksloch. Der Instinkt des Seemanns sagte ihm, dass da nicht nur neues Leben kam, sondern gleichzeitig der Tod.
    »Das Baby kommt«, flüsterte Molly mit rissigen Lippen.
    Der Junge vergaß den Eindringling und machte sich mit den Sachen zu schaffen, die Mutter ihn hatte holen lassen. Eine Schüssel voller trüben Wassers. Ein paar Lumpen. Ein Stück Zwirn. Er schluckte die Angst hinunter und zog das Laken zurück, das ihre Beine bedeckte.
    Sie krümmte sich auf ihrem Lager und biss sich auf die Unterlippe, bis das Blut tropfte, aber sie gab keinen einzigen Laut von sich, bis die winzige Kreatur in die wartenden Hände ihres Sohnes glitt. Dann drang ein Stöhnen der Erleichterung aus ihrer Kehle.
    Der Junge
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