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Der Fremde aus dem Meer

Titel: Der Fremde aus dem Meer
Autoren: Amy J. Fetzer
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1
    Südlich vom Wendekreis des Krebses
    Westindische Inseln
    1789
    »Sie greifen an, Capt’n.«
    »Ich habe Augen im Kopf, Mister Cameron. Und Ohren.« Ramsey O’Keefe blickte durch das Fernglas, das seine Finger nervös umklammerten. Weiß schimmernd erhob sich das Haus auf dem Gipfel eines kleinen Berges. Es sah aus wie die Spitze einer zusammenfallenden Torte, deren Schichten aus Gärten bestanden, die von einer hohen Steinmauer eingefasst wurden. Doch von seinem Standpunkt aus, von Bord einer eroberten Schaluppe, sah er nur Flammen, orangerote Zungen, die an den Stuckwänden emporzüngelten und Leben zerstörten. »Verdammt, Blackwell«, fluchte er leise vor sich hin. »Mach, dass du da rauskommst!« Er senkte das Fernglas und schob es mit zornigem Schwung zusammen. Dann übergab er es seinem ersten Offizier, ohne ihn anzusehen.
    »Macht das Gigboot fertig!«
    »Zu Befehl, Sir.« Männer stürzten herbei, zogen kräftig an den Hanftauen und Baumgurten. Geübte Hände schwangen das kleine Boot über den Rand des Schiffes, das verborgen in einer kleinen Bucht lag.
    »Lasst es herunter und haltet Position!«, befahl Ramsey. Dann lief er auf und ab, wobei er hin und wieder zu der in Rauch und Flammen stehenden Festung hinübersah. Zeig dich, Blackwell, dachte er gequält, als die Taue durch die Rollen des Flaschenzugs glitten und die Seeleute alle Kraft aufwendeten, um das Beiboot vorsichtig in die aufgewühlte See hinunterzulassen. Wasser schwappte gegen den Schiffsrumpf. Wie morsche Knochen knarrte die Takelung. Ramsey blieb stehen und bemühte sich angestrengt, mit seinen Blicken das Dunkel zu durchdringen, während sporadisch Gewehrschüsse krachten und die Schreie sterbender Männer zu ihm drangen. Er versuchte, nicht hinzuhören und betrachtete nachdenklich die schmale Öffnung der Bucht, wobei er sich sicher war, dass die nächtliche Flut ihr Schiff hinaustragen würde.
    Wenn er das alles nur hätte verhindern können! Ein schmerzender Druck lag auf seinem Magen, der sich wie ein Knoten anfühlte. Mit beiden Händen umgriff er die Reling so fest, dass seine Knöchel bleich hervortraten. Er fühlte sich hilflos und wünschte sich verzweifelt mitten in den Kampf hinein. Denn nur so hätte er sicher sein können, dass Dane seine Nachricht rechtzeitig erhalten hatte und nun wusste, dass einige von Ramseys Leuten sich in und um die Festung herum verteilt hatten. Aber was würde geschehen, wenn er die Nachricht nicht bekommen hatte? Heilige Mutter Gottes! Er wollte gar nicht daran denken, dass Dane auch nur einen seiner Männer töten könnte, weil er ihn nicht wiedererkannte. Sein Instinkt sagte ihm, dass Phillip Rothermere einen solch wagemutigen Ausbruch herausfordern würde. Als ob es noch nicht reichte, dass dieser anmaßende Schweinehund Danes Schwester ermordet und das Blackwell-Vermögen gestohlen hatte. Jetzt hatte er auch noch den größten Fang gemacht: Tess.
    Fahr zur Hölle, Rothermere!, fluchte Ram und stieß sich von der Reling ab. Wenn sie verletzt ist, wenn ihre Haut auch nur eine einzige Schramme aufweist, werde ich dich, bei allem, was mir heilig ist, in hundert Stücke...
    Plötzlich ließ ein durchdringender Schrei seine Nackenhaare zu
    Berge stehen. Er schnippte mit den Fingern, und gleich darauf war das Fernglas in seiner Hand. Er sah hindurch. Eine Feuersbrunst erleuchtete das ganze Haus, doch sein Blick blieb auf den bröckelnden Mörtel unterhalb zweier Fenster gerichtet.
    »Gebt das Zeichen zum Angriff!«, befahl er, und die Schläge aus den Doppelkanonen donnerten über das Wasser. Am Ufer erklommen seine Männer die steile Böschung, und selbst aus dieser Entfernung konnte Ramsey das Wirbeln der Enterhaken hören, ihr helles Klingen und Kratzen auf uraltem Gestein, in dem sie sich festhakten. Binnen weniger Augenblicke überwanden die Matrosen der Revolutionären Nordamerikanischen Marine die Mauer. Er wartete, während die Sekunden vorüberschlichen, bis Licht die düstere Nacht durchdrang. Da! Der Tunnel! Der Zugang eine verfallene, ins Nichts führende Treppe! Es war ihre einzige Fluchtmöglichkeit. Und die Überlebenden mussten über die Mauer zum Strand vorstoßen. Für Tess würde das eine Kleinigkeit sein, denn er hatte sie schon während eines Sturmes in die wild schaukelnde Takelung klettern sehen. Aber was, wenn sie verletzt wäre? Ramsey spähte in das Dunkel, doch er konnte nichts als schwankende, von Fackellicht übergossene Schatten erkennen. Die undeutliche Sicht ließ
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