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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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so als stünde er in der Kirche und predigte zu seiner Gemeinde.
    Jonathan verdrehte die Augen. Es fiel ihm schwer den Pastor ernst zu nehmen. Für ihn war der Religionslehrer kein Hirte, wie es der Bedeutung des Wortes »Pastor« entspräche. Deshalb redete er ihn stets nur mit »Mister Garson« oder »Sir« an, wodurch er regelmäßig den Unmut des Geistlichen auf sich zog.
    Auch die äußere Erscheinung Pastor Garsons forderte nicht gerade Respekt – eher Heiterkeit. Er war äußerst beleibt und sein feistes Haupt überstrahlte eine stets makellos spiegelnde Glatze, die cäsarengleich von einem dünnen Reif grauer Haare gekrönt war, von den Jungen schlicht »der Heiligenschein« genannt. Garson war immer schwarz gekleidet, abgesehen von dem kleinen weißen Kragen, der seinem Gewand nur wenig Abwechslung verlieh. Das Gesicht des Geistlichen war breit und rund; einzig die Knollennase und das vorstehende Kinn, das einem kleinen Kricketball glich, erhoben sich als markante Punkte aus seinem Antlitz. Überraschend war die Stimme, die aus dem massigen Leib erklang: Sie war dünn und hoch.
    »Wie wir bereits erfahren haben«, fuhr Pastor Garson fistelnd fort, »beschreiben Dante in seiner Göttlichen Komödie und John Milton in seinem Werk Das verlorene Paradies die Hölle als einen Ort fürchterlichster Qualen für diejenigen, die nicht durch die Taufe im heiligen Hort der Kirche Schutz gefunden haben. Auch werden die Sünder, die keine Absolution erhielten, die Strafe der höllischen Qualen erleiden.«
    Es schien dem »Hirten« seltsame Wonnen zu bereiten seine Zuhörer mit diesem Thema zu peinigen. Sein theatralischer Vortrag erreichte einen Höhepunkt, als er fortfuhr: »Als treffend müssen wir aus diesem Grunde die Worte der XXVI. Betrachtung aus dem Werk Apparecchio alla morte empfinden.« Er räusperte sich und holte tief Luft, wobei er den Kreis seiner Zuhörer fixierte, als wolle er sie in Hypnose versetzen. Dann las er in getragenem Ton vor: »Die Hölle ist von Gott ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen worden die Verdammten zu quälen. Sie werden ins Feuer getaucht wie ein Fisch ins Wasser, doch sind sie nicht nur vom Feuer umgeben, sondern das Feuer dringt auch in ihre Eingeweide ein, um sie zu quälen. Ihr Leib selbst wird zu einer Feuerflamme, sodass das Eingeweide im Unterleib brennt, das Herz in der Brust, das Gehirn im Kopf, das Blut in den Adern und sogar das Mark in den Knochen; jeder Verdammte wird selbst zu einem Feuerofen.«
    Nach kurzer Kunstpause schlug er das Buch knallend zu. Die Schüler zuckten erschrocken zusammen. Ohne den Blick vom ledernen Einband des Werkes zu erheben, fügte er hinzu: »Zitat Ende.«
    Allgemeines Schweigen.
    »Wir sehen also, dass es sich lohnt darüber nachzudenken, ob wir den durch die Kirche geäußerten Willen Gottes tun oder ob wir ihm in rebellischer Weise Widerstand leisten wollen.«
    Diese letzte Bemerkung war zweifellos an Jonathans Adresse gerichtet, dessen gelangweiltes Gesicht keine Wirkung zeigte von diesem infernalischen Vortrag.
    Jonathan räusperte sich.
    »Nun, ich sehe, die eben gehörten Worte haben auch bei unserem kritischen, jungen Freund Eindruck hinterlassen.« Zufriedenheit spiegelte sich in Pastor Garsons breitem Gesicht.
    »Oh, das haben sie gewiss, Sir«, entgegnete Jonathan. »Ich habe nämlich eine Frage.«
    Jonathan öffnete den Deckel seines Schultisches und zog ein Buch hervor. »Ich habe gestern etwas in diesem Buch hier gelesen. Es heißt Die Religion Babylons und Assyriens und wurde von einem Mister Morris Jastrow jr. geschrieben…«
    »Ich glaube, das gehört wohl nicht zum Thema«, unterbrach der Pastor.
    »Mister Jastrow schreibt hier«, fuhr Jonathan unbeirrt fort, »dass schon in alten babylonischen und assyrischenÜberlieferungen die Unterwelt ›als Ort des Grauens‹ dargestellt wurde, welcher ›von grimmigen, sehr mächtigen Göttern und Dämonen beherrscht wird‹.« Er schaute vom Buch auf und bemerkte scheinbar gedankenverloren: »Ich frage mich nur, wie es kommt, dass sich ausgerechnet die Bibel über einen feurigen Ort des Strafgerichts Gottes ausschweigt. Jeder scheint so eine Hölle oder Unterwelt gehabt zu haben, wie Sie sie uns vorhin beschrieben, Mister Garson – die Ägypter, die Buddhisten, die Griechen… Man könnte denken, all diese Glaubensansichten besitzen einen gemeinsamen Ursprung. Und was ist mit all jenen Christen, die die Absolution nur um Haaresbreite verpasst haben, weil bei ihrem Tod gerade
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