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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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meisten seiner Altersgenossen ihre Mutter.
    Großvater Jabbok blieb für Jonathan lange ein unbeschriebenes Blatt. Der alte Mann hatte sich auf Jabbok House, dem Familiensitz, hinter seiner verstockten Haltung verbarrikadiert. Sogar die Geburt des nach ihm benannten Enkelsohnes drang nicht zu ihm durch.
    Möglicherweise hatte Jacob ein wenig vom Starrsinn seines Vaters geerbt; jedenfalls verließ auch er Portuairk nur noch, um zusammen mit Großvater Morton aufs Meer hinauszufahren. Großmutter Hazel umsorgte derweil den kleinen Knaben. Immer, wenn es Jonathans Vater möglich war, verbrachte er die Zeit mit seinem Sohn. Er sprach dann oft von dem Schöpfer, der Himmel und Erde gemacht hatte, und flößte so dem Knaben einen tiefen Respekt vor den Gaben des Allmächtigen ein. In den grauen Tagen und langen Abenden des Winters, wenn die Stürme das Meer peitschten, erzählte der Vater auch häufig Begebenheiten aus der Heiligen Schrift. Wenn er und der Großvater die Netze flickten, saß der kleine Jonathan dabei, spielte mit Stricken und Schwimmern und lauschte den biblischen Geschichten. Er sah, wie Samson die Säulen des Dagon-Tempels zum Einsturz brachte und wie die Heere Pharaos in den zusammenstürzenden Wassermassen des Roten Meeres versanken. Im Lichte der Petroleumlampen entflammte in ihm die Phantasie, durch die er sich in Welten versetzen konnte, die er wohl niemals in Wirklichkeit würde sehen können – vor allem jetzt, da er im Rollstuhl saß.
    Eines Tages, als Jonathan sechs Jahre alt war, kehrte das Boot von Großvater Morton vier Tage lang nicht in das Fischerdorf zurück. Als es dann doch in den kleinen Hafen von Portuairk einlief, lag Jonathans Vater wie tot im Boden des kleinen Seglers. In einem heftigen Sturm hatte sich der Großbaum losgerissen und Jacob an der Brust getroffen. Er war mit dem Hinterkopf gegen das Dollbord geprallt und in tiefe Bewusstlosigkeit gesunken. Wie durch ein Wunder gelang es Großvater Morton das stark beschädigte Boot allein aus der bewegten See in den Heimathafen zurückzusteuern. Am Abend kam Jonathans Vater zwar wieder zu Bewusstsein, war jedoch zu schwach, um zu sprechen oder sich aufzurichten.
    In den folgenden Wochen setzten die Herbststürme ein. Und so, wie die Tage immer kürzer wurden und alles Leben mit dem hereinbrechenden Winter zu ersterben schien, wich auch bei Jacob die Lebenskraft. Er ahnte, dass er nicht mehr gesunden würde, und so lastete die Sorge um seinen Sohn doppelt schwer auf ihm. Großvater Morton fühlte dies und schickte nach dem alten Lord Jabbok. Diesem tat längst Leid, was früher geschehen war, und die Nachricht, die er jetzt empfing, zerriss ihm beinahe das Herz. Noch am selben Tage machte er sich auf die Reise nach Portuairk. Als er dort ankam, bestand für seinen Sohn schon keine Hoffnung mehr.
    Vor der Tür der kleinen Hütte traf der Lord auf Großvater Morton. Voller Mitgefühl legte der alte Fischer die Hand auf die Schulter des Mannes, den er jetzt zum ersten Mal sah. Wortlos deutete er mit dem Kopf auf die Eingangstür.
    Als sich Vater und Sohn – nach allem, was geschehen war – anschauten, herrschte tiefes Schweigen. Dann umarmten sie sich und das Zerwürfnis war vergessen. Die Freude über das Wiedersehen gab Jonathans Vater sogar die Kraft sich aufzurichten. Aber der alte Lord erkannte, dass sein Sohn vom Tode gezeichnet war.
    Er wandte sich zum Fenster. »Ein herrlicher Ausblick! Ich wusste gar nicht mehr, wie überwältigend der Blick auf das Meer sein kann.«
    »Jonathan meinte, es würde mir gut tun, wenn ich etwas Ablenkung fände. Deshalb bat er Morton mein Bett ans Fenster zu rücken.«
    Großvater Jonathan bemerkte erst jetzt, dass an der gegenüberliegenden Wand noch ein zweites, kleineres Bettgestell stand. »Wer ist dieser…« Es fiel ihm offensichtlich schwer den eigenen Namen auszusprechen »… Jonathan, und wo ist deine Frau?«
    Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Kranken. »Jenny ist bei Jonathans Geburt gestorben.«
    »Du hast sie bestimmt sehr geliebt«, sagte Großvater mit bebender Stimme. Die Nachricht vom Tod seiner Schwiegertochter und von der Existenz eines Enkelsohns hatten ihn aufgewühlt. »Was für ein Narr war ich doch, als ich mich weigerte Jennifer kennen zu lernen! Aber sag doch«, fuhr er lebhaft fort, »wo ist der kleine Jonathan, mein Enkel? Ich möchte ihn gerne sehen! Wie alt ist er? Und wie groß ist er? Sieht er dir ähnlich?«
    Ehe sein Vater antworten konnte, flog die
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