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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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Tür auf und der kleine Jonathan kam hereingestürzt. Er trug Holzscheite auf dem Arm für den gusseisernen Ofen, der in der Ecke des Zimmers stand. Mitten im Lauf erstarrte der Junge und schaute den fremden Besucher aus großen, fast schwarzen Augen an. Der stattliche alte Mann blickte kaum weniger erstaunt, unfähig ein Wort zu sprechen.
    »Sag deinem Großvater Guten Tag, Jonathan«, forderte der Vater den Kleinen auf.
    Jonathan legte das Brennholz neben dem Ofen ab und ging zögernd auf den Fremden zu. Dieser streckte dem Knaben beide Hände entgegen, um ihn in die Höhe zu heben und an sich zu drücken. »So«, sagte er, »du bist also der Stammhalter der Jabboks.«
    »Warum hast du Tränen in den Augen? Hast du geweint?«, fragte der Junge.
    »Ein Jabbok weint doch nicht, kleiner Jonathan. Ich hab wohl ein wenig Zug abbekommen«, antwortete der Großvater mit brüchiger Stimme. Er stellte seinen Enkel wieder auf die Füße und wandte sich an dessen Vater: »Ich glaube, wir sollten einiges besprechen, Jacob.«
    Jonathans Großvater erklärte seinem Sohn, dass er alles tun wolle, um seinem Enkel eine gute Erziehung und Ausbildung angedeihen zu lassen; es wurde ein sehr langes Gespräch.
    Kurz darauf starb Jacob Jabbok; friedlich schlief er ein. Bevor er jedoch die Augen für immer schloss, sagte er zu seinem Sohn: »Jonathan, denke immer an das, was ich dir beigebracht habe. Achte stets alles Leben und vergiss vor allem nicht die Liebe zu deinem Schöpfer. Lass dich von seinem Wort leiten. Er ist die Liebe in Person und ich weiß, dass in deinem Herzen eine Menge Platz ist für diese edelste aller Eigenschaften.«
    Zwei Tage später – nachdem Jacob Jabbok neben seiner Ehefrau Jennifer beigesetzt worden war – machten sich ein ernster, alter Lord und sein sechsjähriger Enkel auf die Reise nach Bridge of Balgie. »Du wirst einmal Jabbok House erben, den Besitz unserer Familie. Dazu benötigst du eine gute Erziehung«, entschied der alte Lord.
    Nach sechs Wochen betrat Jonathan zum ersten Mal die Eingangshalle des Knabeninternats, das am Ortsrand von Loanhead lag, auf der Straße nach Edinburgh. Ehrfürchtig blickte er um sich. Die kleine Schule von Portuairk, in der er sein erstes Schuljahr verbracht hatte, war gegen dieses Anwesen eine ärmliche Fischerkate. Er hatte das kleine, weiß getünchte und mit Ried gedeckte Gebäude, in dem es nur ein einziges Klassenzimmer gab, gemocht. Wie oft hatte er auf seiner Holzbank gesessen und gelauscht, wenn der alte Mr. Cruickshank den älteren Schülern etwas erklärte. Und oft hatte er bemerkt, dass er den schwierigen Stoff schneller begriff als diese.
    Im Gegensatz zur Elementarschule von Portuairk verströmten die ruhigen, etwas muffigen Räume des neuen Knabeninternats Ehrwürdigkeit und pedantische Ordentlichkeit. Großvater hatte es für das Beste gehalten, wenn auch Jonathan in diesem traditionsreichen Haus auf das Leben vorbereitet würde, in dem schon der Vater und etliche Jabboks zuvor erzogen worden waren.
    Solche Argumente waren für einen sechsjährigen Knaben allerdings schwer zu ertragen. Jonathan fühlte sich nicht wohl in Loanhead. Er hatte zeit seines Lebens nur die salzige Luft der Hebriden geatmet und der Leuchtturm von Ardnamurchan war für ihn der Nagel gewesen, an dem die Welt hing.
    Es dauerte ein Jahr, bis Jonathan sich in dem Knabeninternat eingewöhnt hatte und es folgte ein zweites, in dem er ein Junge war wie alle anderen: Er schoss Bälle durch Fensterscheiben, raufte sich, wenn es die Situation erforderte, und ließ sich sogar hin und wieder dazu hinreißen, Kricket zu spielen. Dann aber, er war gerade acht geworden, änderte sich sein Leben innerhalb weniger Tage.
    Anfangs sah es aus wie eine heftige Erkältung – Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, der Hals war entzündet; Dr. Dick verschrieb strenge Bettruhe –, aber nach drei Tagen stellten sich neue Symptome ein: Eine seltsame Unruhe ergriff Jonathan. Rücken und Glieder begannen zu schmerzen. Der Schock kam genau an dem Tag, als er zum ersten Mal von Yonathan geträumt hatte.
    Er war erwacht, schweißgebadet, und die Blase hatte nach ihrem Recht verlangt. Er wollte seine Beine aus dem Bett schwingen. Aber sie wollten nicht. Verzweifelte Anstrengungen, weitere Schweißausbrüche und Angstschreie konnten an der Situation nichts ändern: Jonathan war gelähmt!
    Obwohl der Rest des Körpers sich in den kommenden Tagen schnell erholte, blieben seine Beine seit dieser Zeit nutzlose
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