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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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kein Priester zur Hand war? Oder diese ein-hundertzwanzigtausend Menschen, die neulich bei dem furchtbaren Erdbeben in Japan ums Leben gekommen sind? Das waren ja keine Christen, sondern ungetaufte Heiden, wie Sie immer zu sagen pflegen, nicht wahr, Sir? Da wird es aber Gedränge geben in der Hölle.«
    »Genug!«, kreischte Pastor Garson. Zornesröte verliehseinem Gesicht Ähnlichkeit mit einem riesigen Radieschen. Während der Worte des unbequemen Schülers hatte sich diese Verfärbung nach und nach vollzogen. Als dann die Jungen anfingen sich gegenseitig anzustoßen und sehr erheiternde Flüstereien auszutauschen, war es zu der Entladung gekommen.
    Es folgte eine Pause. Der Geistliche sammelte sich, rang nach Fassung, machte Atemübungen. Dann erklärte er ruhig, aber drohend: »Es ist nicht das erste Mal, dass du mit frechen Bemerkungen den Unterrichtsfluss störst, Jonathan Jabbok. Maßt du dir etwa an, die Auslegung der Heiligen Schrift, wie sie über Jahrhunderte hinweg von den gelehrten und ehrwürdigen Kirchenvätern festgelegt wurde, neu zu schreiben?« Er vollzog eine umfassende Geste, als wolle er jeden seiner Schüler einladen die Qualen der Hölle durch einen gläsernen Boden im Klassenzimmer selbst in Augenschein zu nehmen. »Habe ich euch allen nicht genug Verse aus Gottes heiligem Worte vorgelesen, die deutlich zeigen, dass die Hölle dort einen angestammten Platz hat? Erinnert euch doch nur an das Gleichnis unseres Herrn Christus von dem reichen Mann und von Lazarus! Hat nicht der reiche Mann mitten aus der Hölle Glut Lazarus, der sicher in Abrahams Schoß ruhte, um einen einzigen Tropfen Wasser gebeten, damit seine Pein gelindert würde?«
    »Nein«, versetzte Jonathan. »Wie Sie selbst sagten, Sir, sprach Jesus in einem Gleichnis. Er sprach also in Bildern, um eine bestimmte Sache besser erklären zu können. Aus der Handlung des Gleichnisses ist leicht zu erkennen, dass es nicht buchstäblich gemeint ist. Oder wie sonst könnte ein einziger Wassertropfen jemandem, der die von Ihnen so anschaulich geschilderten Qualen erleiden muss, Linderung verschaffen? Nach der Bibel ist die Seele nichts weiter als der menschliche Körper oder sein Leben und die Hölle der Ort, wohin die tote Seele geht: ein kühles, stilles Grab. Ich finde, das passt auch viel besser zum Bild des liebevollen Gottes als die Vorstellung, er könnte seine Geschöpfe in alle Ewigkeit quälen. Oder glauben Sie als Kirchenmann, Sir, dass die Bibel sich in allen diesen Dingen widerspricht? Ich kann Ihnen gerne zeigen, welche Bibelverse ich meine…«
    Dieses freundliche Angebot war für Pastor Garson denn doch zu viel. Seine Festung aus gelehrten, aber nebulösen Erklärungen war von Jonathan so schnell gestürmt worden, als hätte er vergessen rechtzeitig die Zugbrücke hochzuziehen. Alles, was er jetzt noch in die Waagschale werfen konnte, war die Autorität seines Amtes.
    »Willst du etwa wagen, du grüner Knabe«, explodierte er, »mir, der ich acht lange Jahre Theologie studiert habe, die Heilige Schrift zu erklären? Mit deiner Rebellion vergiftest du nicht nur deinen Geist, sondern auch den deiner Mitschüler. Ich verbiete dir mit diesem Unsinn fortzufahren. Du bekommst einen Tadel für dein respektloses Verhalten; vielleicht kann dir das dein freches Mundwerk stopfen.«
    Jonathan wusste, dass er den Bogen nicht überspannen durfte und schwieg. Bis hierher hatte ohnehin alles geklappt: Der eine oder andere Mitschüler hatte gewiss erkannt, dass nicht alles, was ihm von Garson aufgetischt wurde, der Weisheit letzter Schluss war.
    »So«, meinte Pastor Garson gefestigt, »ich glaube, jetzt können wir endlich mit dem normalen Unterricht fortfahren. Ihr habt noch einige Minuten Zeit eure Bilder zum Thema ›Wie stelle ich mir die Hölle vor?‹ zu vollenden. Wenn ihr fertig seid, legt sie mir bitte auf mein Pult.«
    Es folgte stille Geschäftigkeit. Einige hatten ihre Darstellung zu den von Pastor Garson so plastisch geschilderten Qualen bereits fertig und deponierten sie auf dem Lehrerpult. Andere brachten noch letzte Verbesserungen an. Dabei variierten die Bilder von naiven Zeichnungen bis hin zu aufwendigen Kompositionen in Wasserfarbe, die schon fast barock anmuteten.
    Jonathan hatte ein Blatt Papier hervorgeholt, auf dem sich – nichts befand. Dann hatte er alle Malutensilien ausgebreitet und begann nun das Blatt mit langen Strichen aus einem breiten Borstenpinsel zu überziehen. Das Wasser, in das er immer wieder seinen
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