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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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wird der Zweck vollkommen erfüllt.‹
    Das Volk hörte die Worte des Königs und handelte freudig danach, denn das vereinte Wirken der sieben Verwalter war auch ein Vorbild für sie selbst. Nie wieder ließen sie sich spalten durch Neid und Eifersucht.
    So hatte das Land fortan Frieden und die Menschen lebten wieder in Glück und Wohlstand. Der böse Fürst aber blieb bis zu seinem Tode gefangen und kehrte nie mehr in das Land des Trostes zurück.«
     
     
     

I.
Der Stab
     
    O nein! Das durfte einfach nicht wahr sein. Was für ein Pech! Nein, was für eine Riesendummheit! Yonathan gehörte zu den eher sanftmütigen und besonnenen Naturen, sonst hätte er sich jetzt wohl sämtliche Haare ausgerauft. So aber saß er da und zerbiss sich die Unterlippe, um nicht laut loszuschreien, ausÄrger und Wut über die eigene Gedankenlosigkeit.
    Nachdem der erste Schmerz verflogen war, gelang es ihm seine Situation klarer einzuschätzen: Er saß in einer dunklen, anscheinend geräumigen Grube.
    Erst wenige Augenblicke zuvor war er aus dem Finkenwald herausgetreten. Der herrliche Anblick einer Wiese hatte ihn unvorsichtig gemacht. Das kniehohe Gras war übersät von wunderschönen bunten Wildblumen. Schmetterlinge schaukelten in der frischen Brise. Der blaue Himmel war zerzaust von Wolken, die in Yonathans Phantasie Gestalt annahmen: gewaltige Drachen, behäbige Elefanten, elegante Segelschiffe… Und während er so, die Hände in den Hosentaschen, über die Wiese geschlendert war, hatte sich plötzlich der Boden unter seinen Füßen aufgelöst.
    Zum Glück war Yonathan unverletzt. Er hatte sich geistesgegenwärtig zur Seite rollen lassen. Jetzt saß er auf dem Grund des Erdloches, die Hände auf den Boden gestützt undden Blick nach oben zu der Öffnung gerichtet, die ihn so unerwartet verschluckt hatte. Wie durch ein Kerkerfenster konnte er hoch oben das Blau des Himmels im Wechsel mit dem zarten Weiß der eilig vorüberziehenden Wolken sehen; Wolken, die ihren Zauber für ihn nun verloren hatten. Yonathan dachte nur noch an eines: so schnell wie möglich wieder aus dieser muffigen Grube herauszukommen.
    Er schätzte die Entfernung bis zum Rand des Loches auf mindestens zehn Fuß, wahrscheinlich mehr. Mit seinen knapp vierzehn Jahren war er größer als die meisten seiner Altersgenossen. Immerhin maß er bereits fünfeinhalb Fuß – fast jedenfalls. Aber je länger er zu dem hellen Durchschlupf emporspähte, desto schmerzhafter wurde ihm bewusst, dass er es durch Springen allein nicht schaffen konnte. Was sollte er also tun?
    Auf dem Boden fühlte er Humus und vermoderte Blätter. Diese lockere Schicht hatte seinen Sturz zum Glück abgemildert – sofern man in seiner Situation von Glück sprechen konnte.
    Yonathan versuchte die Wände des Erdloches zu erkennen. Vielleicht konnte er eine Stelle entdecken, die genügend Halt bot, um hinauf ins Freie zu klettern. Dumpfe Beklemmung stieg in ihm auf. Er sah nichts als Schwärze. Sollte dieser Raum mehr als eine Grube sein? Vielleicht befand er sich in einem riesigen Höhlensystem, einem lichtlosen Irrgarten. Andererseits, so machte er sich selbst Mut, konnte es ja sein, dass eine dieser unterirdischen Verästelungen an die Oberfläche zurückführte.
    Yonathan begann mit der Suche nach einem Höhlengang. Er hob die Arme wie ein Schlafwandler und entfernte sich vorsichtig von dem Lichtkegel, der durch die Öffnung in der Höhlendecke fiel. Während er vielleicht sechzig oder siebzig Fuß weit durch die Dunkelheit tappte, wunderte er sich über den Boden, der – abgesehen von dem Humushügel unter dem Loch – ungewöhnlich eben war.
    Konnte es sein, dass er in die Behausung irgendeines unbekannten Höhlenbewohners gestürzt war? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er schluckte. Schon oft hatte er im Finkenwald den Luchs und manchmal sogar den Bären beobachtet, wie sie auf ihrer Suche nach Beute von den Bergen herabkamen und sich den Siedlungen der Menschen näherten. Auch erzählte man sich allerlei Schauergeschichten von schrecklichen Ungeheuern, die in den Tiefen der Wälder ihr Unwesen treiben sollten. Freilich konnte kaum jemand im Dorf Genaueres über diese Bestien sagen. Und diejenigen, die behaupteten, einmal solche Wesen gesehen zu haben, wurden von den anderen als Wirrköpfe angesehen.
    So auch der alte Navran Yaschmon, der Yonathan vor vielen Jahren in sein Haus auf den Klippen aufgenommen hatte. Manche Leute im Dorf erzählten sich, er sei nicht mehr ganz
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