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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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EINS
Ein Schwarm Krähen
    W ie fünf Krähen es schafften, ein neun Kilo schweres Baby in die Lüfte zu heben, ging über Prues Verstand – aber das Wie war noch ihre geringste Sorge. Ja, hätte sie in eben diesem Moment, als sie ihren Bruder Mac in den Klauen von fünf schwarzen Vögeln davonschweben sah, ihre Sorgen auflisten müssen, wäre die Frage, wie das gelingen konnte, an allerletzter Stelle gelandet. Ganz oben auf der Liste: dass ihr kleiner Bruder, für den sie die Verantwortung trug, von Vögeln entführt wurde. Dicht gefolgt von: Was hatten sie mit ihm vor?

    Dabei hatte der Tag so gut begonnen.
    Zwar war es ein bisschen grau gewesen, als Prue an jenem Morgen aufgewacht war, aber welcher Septembertag in Portland war das nicht? Sie hatte die Jalousien in ihrem Zimmer hochgezogen und einen Moment innegehalten, um die Äste vor ihrem Fenster zu betrachten, umrahmt von einem dunstig weißgrauen Himmel. Es war Samstag, und der Geruch von Kaffee und Frühstück wehte von unten herauf. Ihre Eltern saßen bestimmt schon wie immer am Frühstückstisch: Paps, die Nase hinter der Zeitung vergraben, würde hin und wieder einen Becher lauwarmen Kaffee an die Lippen führen; Mama würde durch eine Hornbrille auf die wollige Masse ihres Strickzeugs starren, von dem niemand so recht wusste, was daraus werden sollte. Und ihr Bruder, ein stolzes Jahr alt, würde in seinem Hochstuhl fröhlich vor sich hin brabbeln und dabei die fernsten Grenzregionen der Unverständlichkeit erforschen: Da! Dada! Und genau so war es auch, als Prue in die Essecke neben der Küche kam. Ihr Vater murmelte eine Begrüßung, die Augen ihrer Mutter lächelten über den Rand ihrer Brille hinweg, und ihr Bruder quiekte: »Puuuh!« Prue schüttete sich Müsli in eine Schüssel.
    »Ich habe Speck auf dem Herd«, sagte ihre Mutter, während sie sich wieder dem wuscheligen Knäuel in ihren Händen zuwandte (war es ein Pulli? Ein Kaffeewärmer? Oder eine Schlinge?).
    »Aber Mama«, antwortete Prue, während sie sich Reismilch über ihr Müsli goss. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich Vegetarierin bin.
Ergo: kein Speck.« Das Wort ergo hatte sie vor Kurzem in einem Roman gelesen und jetzt zum ersten Mal benutzt. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie es richtig verwendet hatte, aber es fühlte sich gut an. Sie setzte sich an den Küchentisch und zwinkerte Mac zu. Ihr Vater spähte kurz über seine Zeitung und lächelte.
    »Na, was hast du heute vor?«, fragte er. »Denk dran, dass du auf Mac aufpasst.«
    »Hmmm, weiß nicht«, entgegnete Prue. »Ich dachte mir, wir könnten ein bisschen um die Häuser ziehen. Ein paar alte Damen aufmischen. Vielleicht einen Haushaltswarenladen überfallen und die Beute versetzen. Ist auf jeden Fall spannender als ein Kunsthandwerkermarkt.«
    Ihr Vater prustete los.
    »Vergiss nicht, die Bücher in der Bücherei abzugeben. Sie liegen in dem Korb neben der Haustür«, erinnerte ihre Mutter sie über die klackernden Stricknadeln hinweg. »Bis zum Abendessen müssten wir zurück sein, aber du weißt ja, wie lange solche Sachen dauern können.«
    »Alles klar«, sagte Prue.
    Mac rief: »Puuuh!«, fuchtelte wild mit einem Löffel herum und nieste.
    »Übrigens glauben wir, dass dein Bruder sich erkältet hat«, sagte ihr Vater. »Also achte bitte darauf, dass er warm eingepackt ist, egal was ihr unternehmt.«

    (Und während die Krähen ihren Bruder jetzt immer höher in den bewölkten Himmel hinauf trugen, fiel Prue plötzlich noch eine weitere Sorge ein: Er hat vielleicht eine Erkältung! )
    Das war also der Morgen gewesen. Ziemlich unspektakulär. Prue aß ihr Müsli auf, überflog die Comics in der Zeitung, ergänzte ein paar einfache Wörter im Kreuzworträtsel ihres Vaters und machte sich dann daran, den roten Radio-Flyer -Anhänger an ihrem Fahrrad zu befestigen. Der Himmel war immer noch von einem gleichmäßigen Grau bedeckt, doch es sah nicht nach Regen aus. Also steckte sie den weiter vor sich hin brabbelnden Mac in einen gefütterten Cordstrampler, wickelte ihn in eine Steppdecke und setzte ihn in den Anhänger. Dann befreite sie einen Arm aus diesem Kleidungskokon und drückte ihm sein Lieblingsspielzeug in die Hand: eine Holzschlange. Er schüttelte sie dankbar.
    Prue schwang sich auf den Sattel, trat kräftig in die Pedale und setzte das Fahrrad in Bewegung. Der Anhänger hüpfte geräuschvoll hinter ihr her, und bei jedem Ruck kreischte Mac glücklich auf. Sie rasten durch die Siedlung mit den adretten
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