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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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Anhängsel und als er nach einigen Wochen außerplanmäßiger Ferien nach Loanhead zurückkehrte, war er ein anderer Junge geworden – stiller, in sich gekehrter, nachdenklicher.
    »Jonathan! Du träumst ja schon wieder. Jetzt müssen wir uns aber beeilen; gleich beginnt das Frühstück.«
    Der alte Hausdiener schob Jonathan aus dem Zimmer, hinaus auf den Gang und hinüber in den Speisesaal, in dem schon die anderen Jungen versammelt waren. Eigentlich befanden sich die Schlafräume im ersten Stock des Gebäudes. Jonathan bewohnte jedoch ein Zimmer, das sich zu ebener Erde befand.
    Das Internat, früher einmal ein Herrenhaus, war überwiegend aus Natursteinen errichtet, der obere Teil jedoch, einschließlich der Giebel, aus Fachwerk. Einige Wirtschaftsgebäude gehörten ebenfalls zu dem Anwesen. Die Bauwerke standen in einem gepflegten Park, der von den Fenstern des Speisesaals aus gut zu überblicken war.
    Als Jonathan in den großen Raum rollte, war es Punkt sieben. Er fühlte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Wieder einmal erschien er als letzter Schüler zum Frühstück, zu einer Zeit, die eigentlich dem allmorgendlichen großen Auftritt von Sir Malmek vorbehalten war. Diese Szenen brachten immer etwas Abwechslung in die sonst sehr eintönigen Mahlzeiten, weil sie dem strengen Heimleiter Gelegenheit boten seine rhetorischen Fähigkeiten vorzuführen.
    Nicht, dass die Mitschüler Jonathan wirklich etwas Schlechtes wünschten, aber ihr Bedauern für seine Behinderung hielt sie nicht davon ab, ihn auch hin und wieder zu hänseln; einerseits wegen Samuel, der seinen Schützling wie ein Leibdiener umsorgte, andererseits wegen Jonathans Verschlossenheit und seiner Neigung den eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn er sich auf seinen geistigen Streifzügen befand, konnte man ihn ansprechen, ohne dass er eine Reaktion zeigte. Dieser Eigenheit verdankte er den Beinamen »der Träumer«.
    Jonathan war noch nicht ganz bis zu seinem Platz gerollt, als schon Sir Lucius Malmek den Raum betrat, der Mann, der sich selbst bescheiden als den »führenden Kopf des Internats« bezeichnete.
    »Aha! Jonathan Jabbok hat es wieder einmal für nötig befunden seinen eigenen wichtigen Geschäften nachzugehen. Deshalb konnte er natürlich seinen Terminplan nicht so einrichten, dass ein pünktliches Erscheinen zum Frühstück möglich gewesen wäre«, leitete Sir Malmek das bekannte Ritual ein. Es bestand aus einem fein ausgeklügelten System aus Freundlichkeit und Tadel, das sich der Direktor über viele Jahre hinweg erarbeitet hatte, um, wie er meinte, lebenstüchtige junge Männer heranzubilden.
    Nach Jonathans Erfahrung war eine zur Schau getragene Demut in dieser Situation das beste Rezept.
    »So ist das also! Der junge Lord Jabbok hat nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen«, fuhr Sir Malmek triumphierend fort. Dann ließ er sich aus über die Verpflichtung der gehobenen Gesellschaft zu Ordnung, Korrektheit und Pünktlichkeit. Mit der Formel »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!« beendete er seine Ausführungen.
    Sir Malmek verzichtete auf eine Bestrafung, ein Zugeständnis an Jonathans Behinderung. Der Gerechtigkeit war Genüge getan und niemand konnte ihm nachsagen, die ehernen Grundsätze des Internats ließen sich mit Jonathans Rollstuhl beiseite rücken.
    Vor dem Essen sprach Sir Malmek ein Gebet. Er bat um Gottes Segen für das Mahl und für den König. Jonathan senkte wie die anderen das Haupt, betete aber für sich. Sein Vater hatte ihn gelehrt nicht einfach irgendwelche auswendig gelernten Worte daherzusagen, für die man weder Herz noch Verstand benötigte. Außerdem war Gott weder Brite noch Schotte; er segnete alle Menschen, die ihm aufrichtig dienten, ob es sich dabei um Bürger des Vereinigten Königreiches oder um Menschen irgendeiner anderen Nation handelte.
    Nachdem Sir Malmek sein Amen gesprochen hatte und dieses von den Jungen wiederholt worden war, rückten sie dem gerösteten Weißbrot zu Leibe. Dazu gab es Käse und Marmelade, Obst und Milch. Alles verlief normal, was heißen soll, dass kein Wort gesprochen wurde. Nur wenn es Sir Malmek beliebte etwas anzumerken, durften die Jungen nach Aufforderung zustimmen.
    »Nachdem wir in den letzten Lektionen einiges über die gerechte Strafe Gottes für die durch die Erbsünde verurteilten Individuen gelernt haben, wollen wir uns heute abschließend noch dem Zitat eines katholischen Werkes zuwenden.«
    Pastor Garson sprach stets in getragenem Ton,
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