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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Autoren: Ralf Isau
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waren oder ob sie von Neschan stammten, der Welt, in der sein Traumbruder lebte.
    Dieses merkwürdige Verhältnis zu dem Zwilling seiner Träume kapselte ihn bisweilen von der Umwelt ab. Obgleich wach, glitt er immer wieder hinab in jene Traumwelt. Kein Wunder, dass die anderen ihn »den Träumer« nannten.
    Wenn Jonathan nicht träumte, dann las er Bücher – über die Wunder der Natur, aber auch solche, die phantastische Geschichten erzählten. Gullivers Reisen hatte er dreimal gelesen!
    Sein Verhältnis zur Schule war zwiespältig. Nicht, dass ihm das Lernen zuwider gewesen wäre. Im Gegenteil, er liebte es sich stundenlang unter einem Berg von Büchern zu vergraben, um einer Frage genau auf den Grund zu gehen. Infolgedessen war er seinen Mitschülern in fast allen Fächern weit überlegen. Nur die Lehrer, die getreu den Richtlinien von Sir Malmek Korrektheit, Ordnung und Pünktlichkeit oft über den eigentlichen Zweck des Unterrichts stellten, trübten bisweilen die Freude am Kennenlernen neuer Dinge.
    Im Religionsunterricht, der von Pastor Garson geleitet wurde,gab es gelegentlich Ärger, weil sich Jonathan nicht den Ansichten der Kirche beugen wollte. Das, was ihn sein Vater über Gott gelehrt hatte, war zu tief in seinem Herzen verankert, als dass er es für eine bequemere Lehre über Bord geworfen hätte. Gelegentlich machte sich Jonathan einen Sport daraus, den Pastor mit seinen Bemerkungen aus der Fassung zu bringen.
    So kam es, dass Jonathan oft in Büchern Zuflucht suchte. Es half ihm seine traumzerzausten Gedanken auf ein festes, reales Ziel zu konzentrieren. Und dieses Ziel war heute der Religionsunterricht zum Thema »Höllenlehre«, abgehalten von Herrn Pastor Garson.
    Ein Klopfen an der Tür riss Jonathan aus den Gedanken. Gleich darauf erschien im Türspalt Samuel Falters weißer Haarschopf.
    »Bist du wach?«
    »Ja«, antwortete Jonathan kurz angebunden. Er hatte dasNetz seiner Überlegungen noch nicht fertig geknüpft; wenn er es jetzt losließ, würde alles wieder zu einem wirren Knäuel von Gedankenfäden zerfallen.
    Aber Samuel blieb beharrlich. »Du solltest jetzt langsam aufstehen. In einer halben Stunde wird gefrühstückt und du weißt ja, dass Sir Malmek keine Verspätungen duldet.«
    Jonathan lächelte widerwillig. Aber der Hausdiener hatte natürlich Recht. Mit Sir Malmeks Hang zur Pünktlichkeit war nicht zu spaßen.
    »Komm, mein kleiner Prinz«, sagte Samuel sanft und zugleich unerbittlich. Er hob Jonathan mit einer Leichtigkeit aus dem Bett, als trüge er eine Spielzeugpuppe. Nach alter Gewohnheit setzte er seinen Schützling in den Rollstuhl und schob ihn zur Waschschüssel hinüber. Während Jonathan sich mit dem kalten Wasser peinigte, legte der Hausdiener die Kleidungsstücke für den Tag heraus.
    »Du weißt ganz genau, dass du mich nicht ›kleiner Prinz‹ nennen sollst, Samuel! Ich bin jetzt schon vierzehn Jahre alt und ein Prinz bin ich schon lange nicht.«
    Der alte Samuel lächelte und seine Stimme klang sanft und freundlich, als er erwiderte: »Dreizehn Jahre alt bist du, Jonathan, vierzehn wirst du erst in drei Monaten. Ich glaube, für mich wirst du immer der kleine Prinz bleiben, der du damals warst, als du vor acht Jahren in unser Haus kamst.«
    »Ja, aber wer hat schon mal einen Prinzen im Rollstuhl gesehen?«, entgegnete Jonathan traurig.
    »Quäl dich nicht, kleiner Prinz«, entgegnete Samuel. »Viele bedeutende Männer in der Geschichte waren keine großen Athleten. Nicht Muskeln, sondern Geist und Herz bestimmen den Lauf der Welt und von beidem besitzt du mehr als die meisten anderen Jungen, die ich kenne. Glaube mir: Es waren oft die sogenannten ›klugen Köpfe‹, die der Menschheit Fortschritt brachten – oder großes Leid.«
    Bei den letzten Worten huschte ein Schatten über Samuels Gesicht. Als der Große Krieg die ganze Welt ins Chaos stürzte, hatte auch er viel Schreckliches erlebt. Gleich nach dem Krieg starb seine Frau an der Spanischen Grippe, eine der furchtbaren Folgen dieses erdumfassenden Gemetzels. Seitdem war er allein für die Erledigung all der häuslichen Pflichten im Knabeninternat verantwortlich. Er pflegte den Garten, führte Reparaturen durch und erledigte alle sonstigen Besorgungen.
    Nur für die Küche und die Wäsche hatte man nach dem Tod seiner Frau eine Haushaltshilfe eingestellt.
    Als Jonathan nach einer schweren Erkrankung nicht mehr laufen konnte, erhielt Samuel Falter eine weitere Aufgabe: Er hatte sich um den Enkel Lord
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