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Nele Paul - Roman

Titel: Nele Paul - Roman
Autoren: Michel Birbaek
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sich.
    »Wozu?«
    »Vielleicht möchtest du noch ein Glas?«
    »Dann gehe ich in die Küche und hole mir eins«, sagte sie und wandte sich wieder dem Elend zu.
    Ich blieb neben ihr stehen, bis ich verstanden hatte, dass die Tragödie aus einer Frau bestand, die ihren Job verloren hatte. Als ich rausging, dachte ich darüber nach, wie dieses Problem für jemanden, der auf einen Schlag Beruf, Bein und Attraktivität verloren hatte, Relevanz haben konnte. Mir war klar, dass sie sich langweilte. Mir war nicht klar, was man dagegen tun konnte.

    Auf halber Strecke versank die Sonne hinter dem Steinbruch. Die Dämmerung nahm Gestalt an. Ich trabte den Hügel hoch. Die Luft war immer noch zu warm, und Insekten schwirrten besoffen herum. November hüpfte voller Energie neben mir her. Manchmal vollführte er diese seitlichen Sprünge, die Mor Kragehop getauft hatte. Es sah aus wie ein Megaschluckauf. Er war schon als Welpe merkwürdig gewesen. Ein Sechserwurf. Als wir uns die Kleinen ansahen, taumelten sie neugierig auf uns zu. Die Eltern braun gefleckt, fünf Welpen braun gefleckt, nur einer war schwarz und kam seitwärts auf uns zugesprungen wie ein bockendes Pony. Mor lächelte, Nele lächelte, und ich hatte einen Hund. Seit neun Jahren war Nele weg, aber November war immer noch da und erinnerte mich an sie. Auch nach all diesen Jahren war es schwer, etwas in meinem Leben zu finden, das mich nicht an sie erinnerte. Das Joch des Zurückgebliebenen.
    Als ich oben auf dem Hügel ankam, warf ich automatisch einen Blick zum Nachbargrundstück hinüber. Wie immerwirkte die Villa ausgestorben. Das Fenster in Neles altem Zimmer war dunkel. Doch der Ausblick von hier oben war überwältigend. Das Haus stand genau richtig. Es hatte Sonne von allen Seiten, dennoch strahlte der Ort eine Verlorenheit aus, als wäre er schon vor hundert Jahren verlassen worden. Dabei war es noch kein Jahr her, dass Neles Vater ausgezogen war. Hans, ein ruhiger Mann, der uns Kindern Eis spendiert hatte, ein Schauspieler, der mit uns kleine Theaterstücke einstudiert hatte, ein Nachbar, der nie über den Tod seiner Frau hinweggekommen war. Neles Mutter war vor über zwanzig Jahren bei einem Unfall umgekommen, seitdem war Hans mit Nele allein. Wir hatten uns immer gewünscht, dass er und Mor sich mehr als nur anfreunden. Es hätte perfekt gepasst; er und Mor, Nele und ich. Aber es war nicht passiert. Vor zehn Monaten hatte ein Schlaganfall ihn zum Pflegefall gemacht, und er war in ein Kölner Luxuspflegeheim übergesiedelt. Seitdem gab es einen Grund weniger für Nele, sich je wieder hier blicken zu lassen.
    Ich spürte einen flüchtigen Stich, lief auf der anderen Seite des Hügels wieder runter und nahm den Aufstieg zum Steinbruch in Angriff. Hier und da begegnete ich vereinzelten Spaziergängern, die vom See zurückkamen, aber außer mir lief niemand, ich hatte die Strecke für mich. Der Abend war still. Ein paar Grillen zirpten. Der feine Schotter knirschte leise unter meinen Schuhen. Ich lief und genoss das Gefühl, wie mein Geist sich entspannte. November trabte locker neben mir her. Zwischendurch sauste er ins Gebüsch, um ein Kaninchen zu knutschen, kam wieder hinausgesaust und legte einen Kragehop hin.
    Ich lief eine Runde um den Baggersee, aus dem wir früher oft Teenager rausgefischt hatten, damals, als die Klippen noch der Treffpunkt für die Jugendlichen gewesen waren. Immer, wenn ein Jugendlicher hineingesprungen war, ohne wieder aufzutauchen, kamen Taucher von derBundeswehr und suchten den Steinbruch ab. Sie hatten topografische Karten und Unterwasserfotos, die unterirdische Landschaften zeigten mit plötzlich aus der Tiefe hervorschießenden Felsspitzen.
    Jedes Mal fanden die Taucher geklaute Mofas, Schrottwagen, alte Kühlschränke und kaputte Herde, und egal, wie oft wir hier Streife fuhren – die Umweltsäue ließen sich genauso wenig davon abhalten, ihren Müll im See zu versenken, wie die Jugendlichen sich davon abhalten ließen, die Klippen für Partys, Entjungferungen und andere Mutproben zu nutzen. Vor allem eine Felsplatte, die in zwölf Metern Höhe über allem thronte, hatte es ihnen angetan. Von dort hatte man einen wunderbaren Ausblick auf den See und konnte sich in die Tiefe stürzen. Schaute man genau hin, bevor man sprang, tauchte man ins eiskalte Wasser, doch wenn man in der Hierarchie aufsteigen wollte, sprang man in den Sonnenuntergang. Wenn die Sonne auf der anderen Seite des Sees unterging, wurde die Wasseroberfläche
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