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Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)

Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)

Titel: Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Autoren: Fulvio Ervas
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    Manche Reisen beginnen nicht erst mit der Abfahrt.
    Sie beginnen früher.
    Zuweilen viel früher.
    Vor fünfzehn Jahren stand ich zusammen mit meinen Lieben ruhig und zufrieden im Leben, umgeben von Dingen, die mir vertraut waren. Plötzlich schüttelt Andrea mich, stülpt meine Taschen um, wechselt die Schlösser an den Türen aus. Alles gerät durcheinander.
    Wenige Worte genügten: »Ihr Sohn ist wahrscheinlich autistisch.«
    Die erste Reaktion war Ungläubigkeit: Das kann nicht sein, es muss sich um eine falsche Diagnose handeln. Dann fing ich an, eins und eins zusammenzuzählen, kleine Dinge, die ich vorher fälschlicherweise für nebensächlich gehalten hatte.
    Da bricht ein Orkan los, der alles mit sich reißt.
    Von da an herrscht Sturm.
    Nach der Diagnose ging ich hinaus, betrat eine Bar und bestellte ein Glas stilles Wasser.
    »Möchten Sie sonst noch etwas?« Die Bedienung musste meine Starre bemerkt haben.
    »Wissen Sie etwas über Autismus?«
    »Nein.«
    »Ich auch nicht.«
    Forschend betrachtete ich den Inhalt des Glases, trank langsam, als könnte das Wasser meine Gedanken wegspülen, das Problem den Nieren zuführen und durch die Nieren ausscheiden – weg damit, weit weg von mir. Aber so läuft das nicht.
    »Wie läuft es dann?«, habe ich unseren Hausarzt gefragt. Wie alle im Dorf nannte ich ihn ›Barnard‹, wie den großen Herzchirurgen, denn seine fixe Idee waren Herzkrankheiten, Koronargefäße und solche Sachen, die mich jedoch nie interessiert hatten. Wenn es dir gutgeht, geht es jedem einzelnen Körperteil gut, Herz eingeschlossen.
    »Stell dir eine große Glockenkurve vor: In der Mitte gibt es gewöhnliche Störungen, und an den Rändern findet man die sonderbarsten Abweichungen. In der Mitte ist das Leben verdünnt und außen herum zu dicht.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Das Leben ist unvollkommen, aber es hat seine eigene Kraft.«
    Er hatte recht. Die Biologie hat ihre eigene Kraft und lässt auch Kinder mit Autismus heranwachsen.
    Manche Leute sagen, dass das Leben mit einem autistischen Kind fremdbestimmt sei, ja dass man einer Art Tyrannei zum Opfer falle. Wenn ich mir vorstelle, was passieren würde, wenn Andrea die Welt regierte, muss ich lachen.
    Als Erstes hätten die Wochen eine Farbe. In der roten Woche Bahn frei für den Handel mit Karotten, Orangen, Tomaten. Subventionen nur für diese Produkte und totales Fahrverbot für Lastwagen mit Broccoli, Wirsing oder Erbsen. Wenn aber die grüne Woche anbricht, füllen sich die Geschäfte mit dem vorher nicht erlaubten Gemüse, die Kisten mit Orangen werden unverzüglich nach Sizilien zurückgeschickt und die Karotten eine um die andere wieder in die Erde gesteckt. Natürlich genau da, wo man sie herausgezogen hat, schließlich haben aus Frankreich stammende Karotten in der Gegend von Ferrara nichts zu suchen.
    Nie gäbe es eine violette Woche, zum Leidwesen aller Fans von Pflaumen und Auberginen.
    Halb voll oder halb leer, dieses Dilemma wäre unbekannt. Flaschen und andere Behältnisse müssen immer entweder leer oder voll sein und die Kugelschreiberminen alle drin oder alle draußen, nie halb so, halb so, sonst geht immer ein Stift kaputt und einer nicht. Dieses Risiko muss vermieden werden.
    Von T-Shirts oder Pullovern mit Reißverschluss würde abgeraten, denn es ist schnell passiert, dass dieser ein wenig offen steht. Bitte, Reißverschlüsse entweder auf oder zu. Schluss auch mit den ewigen Haarspaltereien, ob es warm oder kalt ist. Ein bisschen Entschlossenheit kann nie schaden.
    Niemand soll glauben, er könne eine Pizza so essen, dass er sie einfach in Stücke schneidet, irgendwo anfängt und einen beliebigen Bissen zum Mund führt. Zuerst isst man nämlich die weiße Mozzarella, dann das grüne Basilikum und zum Schluss, aber erst ganz zum Schluss, den Boden mit der Tomatensoße.
    Dreihundertfünfundsechzig Mal im Jahr wäre Tag der Schokolade. Diese Regel wäre immerhin leicht einzuhalten.
    Thermostaten würden nicht geduldet. Entweder ist die Heizung abgestellt oder voll aufgedreht. Übergangszeiten sind eine Katastrophe.
    Kirchtürme würden mit automatischen Seifenblasenspendern ausgerüstet, jeden Freitag Seifenblasen in Hülle und Fülle, um das Wochenende anzukündigen, und auch jeden Montag, um den Wochenbeginn zu feiern, Feuerwerk an Silvester, bei Sonnwende, bei Tagundnachtgleiche und zu jedem Anlass, wenn es finanziell drinliegt.
    Eine Tyrannei mit absolut klaren Regeln.
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