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Das Mordkreuz

Das Mordkreuz

Titel: Das Mordkreuz
Autoren: Roman Rausch
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Prolog
    Vor vielen Jahren erzählte mir meine Großmutter die Geschichte von der Weißen Frau. Es war an einem kalten Herbstabend. Ich weiß es noch genau. Die Bäume bogen sich unter der unbarmherzigen Kraft des Windes, und der Regen drang durch die Ritzen des Hauses herein. Großmutter saß in ihrem alten Schaukelstuhl neben dem Holzofen und ich zu ihren Füßen. Die Schatten des Feuers zuckten an den Wänden entlang.
    Die Weiße Frau sei kein Gespenst, sagte sie, sondern eine wahre Gestalt aus den Erzählungen der Leute. Sie erscheine in der Stunde des Todes – wehklagend und weinend. Eine eigentümliche Frau sei sie, voll von Mitleid für die Sterbenden. Das käme daher, dass auch sie viel Leid in ihrem Leben erlitten habe. In der Stunde des Todes wolle sie den Menschen beistehen, damit sie den Tod willkommen heißen, anstatt ihn zu fürchten. Denn für manche sei er ein Befreier von der Last des Schicksals.
    Ich fragte Großmutter, ob sie die Weiße Frau schon einmal gesehen habe. Sie strich mir zärtlich über den Kopf. Nein, denn dann wäre sie nicht hier. Aber allzu fern sei dieser Tag nicht mehr.
    Das beunruhigte mich, und ich wollte wissen, warum sie denn überhaupt sterben müsse. Wer würde sich dann um mich kümmern? Meine beiden Eltern waren ja bereits gestorben. Ich wäre dann ganz allein. Ich wäre niemals allein, antwortete sie. Die Familie wache über mich. Vom Himmel aus.
    Ich mag die Weiße Frau nicht, erwiderte ich. Genauso wenig wie den Tod. Niemand solle je sterben müssen. Großmutter seufzte. Das hätten nicht wir zu entscheiden.
    Wenn der Tod sie hole, fuhr sie fort, dann würde ich die Weiße Frau vielleicht zu Gesicht bekommen. Ich dürfe ihr nicht in die Augen sehen, denn dann hätte mein letztes Stündlein geschlagen. Sollte es doch unabsichtlich geschehen, müsste ich ihr mit großem Respekt begegnen. Vielleicht ließe sie mich dann am Leben.
    Ihre Worte machten mir Angst.
    Der Sommer kam wie Feuer in unser Tal. Er brannte so stark und lange, dass überall die Felder verdorrten und die Brunnen versiegten. Mensch und Tier litten unter der großen Hitze. Selbst die Nächte brachten nur wenig Linderung. Großmutter wurde sehr krank. Sie litt starke Schmerzen, und nichts vermochte ihr Fieber zu senken. Mein Großvater vergrub sich immer mehr in seinen Kummer und wich ihr nicht mehr von der Seite.
    Anfang August kamen die ersten Gerüchte auf. Bauern wollten eine Frau, ganz in Weiß gekleidet, in den Wäldern gesehen haben. Die Männer riefen ihr nach, stehenzubleiben, doch sie verschwand auf wundersame Weise.
    Als mein Großvater davon erfuhr, ließ er die Tür zu unserem Haus weit offen stehen. Er wusste, dass die Zeit gekommen war. Eines Nachts stand er auf und sah sie.
    Ich verkroch mich unter dem Bett, zitterte und flehte, dass sie an meinem Zimmer vorbeigehen möge. Sie kam die Stufen herauf. Großmutter hatte sie bereits erwartet. Ich hörte sie beten. Dann ging sie zu ihr hinein. Ihr Schluchzen und Weinen nahm mir die Angst. Ich schlich mich hinaus und wagte einen Blick ins Schlafzimmer. Am Fenster sah ich sie stehen, mit einer Kerze in der Hand. Ihre Augen waren rot vom Weinen, und ihr Wehklagen war so laut und bitter, wie ich es niemals zuvor gehört hatte.
    Als ein kalter Wind seinen Weg ins Zimmer fand, ergriff Großmutter die Hand der Weißen Frau. Ich fror augenblicklich und suchte Schutz in den Armen meines Großvaters. Er zeigte mir den Mond am Himmel. Der tauchte das Firmament in ein blutiges Rot, und ich hörte den Schrei der Weißen Frau.
    Da wusste ich, dass der Tod zu Großmutter gekommen war.
    Sieh dich vor. Eines Tages wirst vielleicht auch du den Schrei der Weißen Frau hören. Dann weißt du: Der Tod ist nahe.

1
    Rosie Wilde hatte kein Ohr für die Worte ihres Mannes.
    Mit einer Tasse Kaffee, an der sie sich die Hände wärmte, stand sie am Küchenfenster und blickte hinaus auf den Main. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch den nebelverhangenen Morgen. Die weit ins Flussbett reichenden Arme der Trauerweiden waren nur schemenhaft zu erkennen. Sie störten die Schwäne nicht, die, wie von Geisterhand getragen, über das Wasser liefen. Das kräftige Schlagen ihrer weißen Schwingen hob sie mit Anmut in die Luft, über das dumpfe Grau dieses Tals hinaus, weit weg in den Süden, wo es warm und sonnig war. Bald würde sie ihnen folgen.
    «Hallo, ich spreche mit dir», hörte sie Gerald wie aus der Ferne rufen.
    Doch sie weigerte sich, ihm Gehör zu
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