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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss
Autoren: Markolf Hoffmann
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verlor.
    Stille. Schweigen. Traumlose Bewusstlosigkeit. Sein Geist ruhte. Endlich holte die Erschöpfung ihn ein. So viele Wochen der unerfüllten Sehnsucht nach Ruhe und Schlaf, ohne dass Angst und Schmerz ihn lähmten. Laghanos sank dahin; sein Widerstand war gebrochen, sein Lebenswille erschöpft. Er war bereit zu sterben, zu sterben … Als er aus seinem tiefen Schlaf erwachte, brach die Welt mit grellem Licht in sein Bewusstsein. Er öffnete die Augen - und musste sie sogleich wieder schließen, als funkelnde Strahlen ihn blendeten. Er spürte ein Poltern unter sich, ein Beben, das seinen ganzen Körper erfasste. Er lag auf hartem Untergrund - Holz, wie seine Fingerkuppen ertasteten. Um ihn dröhnten Männerstimmen, die ein Lied sangen; unverständliche Worte, die in seinen Ohren hart und fremd klangen. Und das Poltern … erneut öffnete Laghanos die Augen. Er blickte zur Decke einer Höhle empor - auf ein Meer aus funkelnden Kristallen, auf Kaskaden durchsichtigen Gesteins: glitzernde Edelsteine, in denen sich als ein Funkenspiel aus ozeanblauen, bernsteingelben und rubinroten Spiegelungen das Licht brach. Unter dieser phantastischen Kathedrale lag Laghanos, blickte staunend zu ihr auf wie zu einem fernen Himmel; und dieser Himmel zog über ihn hinweg, schob sich wie ein Wolkenmeer durch sein Sichtfeld.
    Erst nach einer Weile begriff Laghanos, dass er selbst es war, der sich bewegte; dass er auf einem Karren lag, der durch einen Gang geschoben wurde. Unter ihm knirschten die Räder auf rauem Untergrund, und jede Unebenheit äußerte sich in einem Rütteln, das sowohl den Karren als auch den auf ihm ruhenden Jungen erfasste. Das Lied verstummte. Ein älterer Mann beugte sich über Laghanos. Sein Gesicht war gelb und wachsartig, besetzt mit weißlichen Bartstoppeln. Die Augen waren von wässriger Färbung. Auf dem Kopf trug der Fremde eine absurde Haube, ein Flickenwerk aus roten Fetzen, die mit verrosteten Nadeln zusammengesteckt waren. Sein Mund formte ein freundliches Lächeln, während er Laghanos betrachtete.
    »Er ist erwacht«, rief er mit lauter Stimme. »Er ist bei uns, endlich!«
    Verwirrt blickte Laghanos zur Seite. Er erkannte eine zweite Gestalt, einen groß gewachsenen, dürren Mann mit halb nacktem Oberkörper. Sein Kopf war kahl rasiert; das Gesicht war unter den zahlreichen Tuschestrichen, die sich über Stirn und Wangen zogen, kaum zu erkennen. Auch dieser Mann, der offenbar den Karren schob, wandte sich Laghanos zu.
    »Gut«, brummte er düster, »sehr gut. Die Prophezeiung erfüllt sich.«
    »Die Prophezeiung erfüllt sich«, wiederholte der erste Mann. Beide redeten in einem Dialekt, der Laghanos unbekannt war; nie zuvor hatte er Menschen getroffen, die das Candacarische in solch schroffer Weise aussprachen.
    Vorsichtig hob Laghanos den Kopf. Er spürte einen heftigen Schmerz in seiner Kehle brennen. »Wo bin ich?«, krächzte er. »Wer seid ihr?«
    »Nur ruhig, mein Junge«, antwortete der erste Mann. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir bringen dich an den Ort deiner Bestimmung. Dort bist du in Sicherheit.«
    Laghanos versuchte sich aufzurichten. Sein Körper fühlte sich matt an; ein Husten schüttelte ihn. Der Mann mit der roten Haube drückte ihn auf den Karren zurück.
    »Du musst dich ausruhen«, sagte er streng. »Dein Hals ist entzündet; er muss erst ausheilen, bis du den Weltengang antreten kannst.«
    Laghanos packte die Hand des Mannes. »Wo bin ich? Bin ich noch in Oors Caundis?« Die Erinnerung an das Ritual kehrte zurück. »Malcoran … Naikaya … sind sie noch am Leben?«
    Der Kahlköpfige wandte sich ihm zu. »Du befindest dich in den Kammern des Heiligen Spektakels - für dich errichtet, um deinen Weg zu erleichtern.« Mit verbissenem Gesicht rollte er den Karren weiter. »Doch nun ist nicht die Zeit für Fragen. Schlafe dich aus, mein Junge! Du musst Kraft sammeln.«
    Laghanos tastete nach seinem Gesicht. Er spürte die Drähte der Maske. Noch immer war sie dort, fest und unverrückbar auf seiner Haut. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
    Der Mann mit der Haube legte ihm beruhigend die Hand auf die Stirn. »Du hast Angst, mein Junge«, sagte er bedauernd, »ebenso wie wir. Auch wir fürchteten uns vor dem Tag, an dem du zu uns kommst und sich die Prophezeiung erfüllt. Seit Jahrhunderten wartet das Heilige Spektakel auf deine Ankunft; nun bist du hier, und diese Tatsache erfüllt uns alle mit Ungewissheit.«
    Laghanos schloss die Augen.
Wovon spricht er? Und wo bin
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