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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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Daumen
    Wir setzen ein, bevor Frank Opitz erwachte. Er hatte einen hässlichen Traum. Eine Horde frecher Kinder tanzte lachend und johlend über seinem Kopf herum, es schien im oberen Stockwerk eine wilde Party im Gang zu sein. Opitz zog einen Besen komplett mit Stiel und Riegel aus der Innentasche seiner Jacke und stieß ihn gegen die Zimmerdecke. Der Stielkopf hinterließ runde Abdrücke im historischen Lehmverputz. Die unverschämten Kinder wurden jedoch immer lauter. Es machte ihnen einen Heidenspaß, den armen Mann in Rage zu bringen. Da Klopfen mit dem Besen nicht half, versuchte Opitz sich auf der Matratze hüpfend so fest abzustoßen, dass er direkt mit der Hand gegen die Decke hämmern konnte. Sein Körper war federleicht, die Sprünge elegant wie die eines Tänzers, doch die kanonenkugelgroße Faust war zu schwer. Er erreichte sein Ziel nicht. Auf einmal stand er nicht mehr im Bett, sondern er lag, und seine ausgestreckteMonsterhand schlug ohnmächtig rasend auf die Bettdecke ein. Der Besen fiel auf seinen Handrücken, das nahm er wahr, als würden seine Augen oben in dem blättrigen Kalkanstrich sitzen. Wahrhaftig erkannte er in dem Loch, das er in seiner Wut mit dem Besenstiel durch die Zimmerdecke getrieben hatte, ein boshaft glitzerndes Auge. Ein höllischer Schmerz durchfuhr seinen Arm und die Hand. Trotzdem konnte er nicht aufhören, besinnungslos immer weiter draufzuhauen.
    Als Opitz aufwachte, war seine Hand noch in Aktion. Er fühlte den Schmerz nun ganz anders als im Traum. Das Händchen mit den kurzen Fingern, das er vor sich sah, stand in einem krassen Missverhältnis zu dem comicartig vergrößerten Körperteil, den er fühlte. Ihm war sofort klar, dass er sich so nicht an den Computer setzen konnte. Er würde bei jedem Fingertippen das Gefühl haben, drei oder vier Tasten auf einmal zu treffen. Den geplanten Essay über Kasper Andrucki würde er noch mal verschieben müssen. Die Vorstellung, den Tag mit Zeitunglesen und Übungen zur mentalen Entspannung zu verbringen, deprimierte ihn nicht mehr. Zu viele Tage waren schon so hingegangen, und die Panik, nichts zustande zu bringen, wich immer mehr einer inneren Faulheit, die sich mit einer pflanzenhaften Existenz durchaus begnügte und sogar ihren Genuss darin fand.
    «Ich habe wieder solche Schmerzen, Anna, dass ich mir am liebsten den Arm abhacken würde.»
    Ganz so schlimm, wie er da behauptete, ging es ihm nicht. Die Schmerzen begannen im Nacken und zogen sich durch seine Schulter den gesamten linken Arm hinab. Er seufzte tief.
    «Ich bin ein Krüppel.»
    Anna erwiderte nichts. Er dachte, sie schliefe noch, und tastete mit der gesunden Hand nach ihr. Er fühlte bloß den leeren Wulst ihrer Bettdecke. Vorsichtig führte er den gesunden Arm vor seiner Brust über den Körper und tastete auf dem Nachttisch nach seiner Lesebrille. Sie fiel auf den Boden. Dort musste sie zunächst liegen bleiben. Opitz biss die Zähne zusammen und stemmte sich vom Rücken auf die Seite. Die Schmerzen wurden stärker. Der Platz auf der anderen Seite des Bettes war leer. Opitz verlangte nach Annas Wärme auf seiner Haut, eine Erinnerung, die er als Wunsch in die Zukunft projizierte. Tatsächlich hätte jede noch so zärtliche Berührung zu einer heftigen Schmerzexplosion führen können. Ein paar tröstliche Worte dagegen hätten ihm gutgetan.
    Der Spiegel oben im Flur stand normalerweise so, dass man sich darin sehen konnte. Heute dagegen war er in einem anderen Winkel gekippt und zeigte bloß ein Stück Decke und Wand, wie in einer Montage durch einen scharfen Strich getrennt. Das war das einzig Bemerkenswerte auf seinem Weg durchs Haus. Auf dem Küchentisch sah er die Tageszeitung liegen. Darauf klebte eine Notiz in charaktervoller Handschrift.Anna war in die Stadt gefahren. Opitz gefiel es nicht, allein zu sein. Als kranker Mann fühlte er sich auf sie angewiesen, besonders in einem immerhin möglichen Notfall.
    Er kochte seinen Kaffee in einer simplen Espressokanne. Die Milch schäumte er mit einem elektrischen Schneebesen auf. Opitz gab den weißen Schaum mit einem Schöpflöffel vorsichtig in die Tasse. Er hatte herausgefunden, dass der Kaffee erst zum Schluss kommen durfte. Ein feines Kitzeln lief über seinen Nacken, das mit der Krankheit nichts zu tun hatte. Obwohl er den Grund ahnte, erschrak er wieder, als er sich umdrehte und durch das Küchenfenster in Jims behaartes Gesicht blickte. Mit seinen dunklen, eng stehenden Augen schaute er von draußen durch
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