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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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Leib.«
    Unwillkürlich lese ich die Passage mit eigenwilliger Betonung vor, mit abschätzigem, auch scherzhaftem Unterton, und Dimple fragt, warum ich mich darüber lustig mache.
    »Und warum bist du so ernst? Es ist nur eine Geschichte; jemand hat sie sich ausgedacht.«
    »Geschichten sind wahr. Begreifst du nicht, dass sich diese Leute ins Verderben stürzen? Gib mir mein Buch zurück.«
    »Das ist kein Buch.«
    »Nein?«
    »Und das hier ist keine Pfeife.«
    »Genug. Du träumst mit offenen Augen.«
    •••
    Vermutlich hatte Dimple die Idee von der Tai oder den Prostituierten im Bordell, und so wie Dimple nun einmal war, wuchs sich das Ganze zu einer Art Unterrichtsstunde aus, einer kleinen Vorlesung. Sie sagte, sie hätte mir etwas mitzuteilen, etwas, das ich nicht persönlich nehmen solle. Sie sagte, sie erzähle mir dies wegen der Fragen, die ich ihr gestellt hatte, und weil ihr erst jetzt klargeworden sei, was sie darüber denke. Sie sagte, dass Männer ganz unabhängig von ihren sexuellen Vorlieben mehr mit anderen Männern als mit Frauen gemein haben. Es sei sogar möglich, dass sie mehr mit den Männchen anderer Spezies als mit Frauen gemein haben, mit Schimpansen etwa, mit Ziegenböcken oder Hunden, vor allem mit Hunden, wie sie mir ja bereits zuvor erklärt hatte. Dies sei nicht beleidigend gemeint, fuhr sie fort, schon gar nicht für einen Mann. Ich möge sie korrigieren, wenn sie sich irre, aber sei es nicht richtig, dass es Männer stärker nach einem Orgasmus als nach Zärtlichkeit verlange? Sei es nicht richtig, dass für einen Mann das wesentliche Ziel des sexuellen Aktes darin bestehe, seinen Samen in ein passendes Gefäß zu ergießen oder auch in ein unpassendes, sofern nichts anderes verfügbar sei? Sie wolle nicht zynisch klingen, aber es stimme doch, dass die Kluft zwischen Mann und Frau unüberbrückbar sei und einfach alles erfasse, von der Art des Genießens bis zur Bedeutung der Ehe. Echte Vereinigung sei unmöglich, bestenfalls können wir uns ein erträgliches Zusammenleben erhoffen. Darauf erwiderte ich nichts. An ihrer Rede überraschte mich weniger der Inhalt als die Tatsache, dass Dimple sie auf Englisch gehalten hatte, in fließendem Englisch, und ich fragte mich, wann sie so gut geworden war.
    •••
    Später, als mir die Augen zufielen, träumte ich, ich ginge durch Flure in einem Haus, in dem man schon lang den Strom abgestellt hatte. Ich folgte dem Geräusch von fließendem Wasser durch unbeleuchtete Flure bis ans Ende und darüber hinaus in ein Zimmer. Es dauerte einen Moment, bis ich die auf mich wartende Gestalt auf dem Bett erkannte. Alte Freundin, sagte ich, erzähle mir die Geschichte deines Todes, und bitte, du musst dir Mühe geben, denn nur dann können wir miteinander reden. Dimple lächelte höflich. Was, fragte sie, ich kann dich nicht verstehen. Ich sagte: Gib dir Mühe, große Mühe. Wie du willst, sagte sie, dies ist dein Haus, aber warum machst du nicht die Fenster auf? Du solltest bei Vollmond keinen Strom verschwenden. Zünde stattdessen eine Kerze an und öffne die Fenster. Draußen auf der Straße brannte nur eine einzige Laterne. Ein Hund mit gebrochenem Bein humpelte ins Licht. Die Straße schien sich zu winden, und ich begriff, dass sie unter Wasser stand. Ich hörte das Wasser ans Haus schlagen und roch die Chemikalien, die auf seiner Oberfläche trieben. Sei dankbar, sagte Dimple, viele Menschen haben nicht einmal dies. Und dann fuhr sie fort: Ich starb im Dezember um drei Uhr nachmittags. Man ging auf der Promenade spazieren. Ein kleines Mädchen fragte: Ist dies das Meer oder der Ozean? Und die Mutter antwortete: Trink deinen Kokossaft und halt einen Moment lang die Klappe. Bis auf einige Krähen waren die Gedenkbänke leer. Ein Paar schaute hinaus auf die See, und mir fiel auf, dass die Frau schwanger war; außerdem kam es mir so vor, als wären die beiden tot, so wie alle Leute auf der Promenade, doch unter den vielen Toten, die spazieren gingen, war ich so tot wie niemand sonst, und ich war mit Blut bedeckt, mit meinem eigenen oder dem von jemand anderem, das wusste ich nicht. Das Meer lag still zwischen dreckigen Mangroven, und ich malte mir aus, ich sei die Flut, die sich um die Felsen am Musikpavillon sammelte, eine schmutzige, blutgeränderte Flut, die verebbte und dann versiegte. Willst du wissen, was als Nächstes geschah? Ich starb, und meine Seele hing kopfüber in einer Höhle voller Kreaturen, die auf ihre Geburt warteten, hing
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