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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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an, malte mit dem Finger den Titel nach und freute sich, wenn es ihr gelang, eine Zeile oder ein Wort zu enträtseln.
    •••
    Ich lag lang ausgestreckt, die Khana ansonsten leer in dieser toten Nachmittagsstunde, als Dimple mich fragte, was ich für ein Buch lese. Das ist kein Buch, sagte ich, es ist ein Magazin mit einer Geschichte über einen indischen Maler, der in London lebt.
    »
Time
. Was für ein großer Name für so ein kleines Buch. Ist der Maler berühmt?«
    »Hier nicht, in England schon. Er hat die Schule geschmissen. Nein, falsch: Er wurde der Schule verwiesen, weil er die Jungentoilette mit pornographischen Wandgemälden verzierte, schaffte es aber auf die Kunstschule und bekam ein Stipendium für Oxford. Die vornehmen Engländer hielten ihn für eine Art gelehrten hinduistischen Mystiker, hier aber steht, er male Christus mit weit größerer Autorität als jeder britische Künstler.«
    »Lies.«
    »Newton Pinter Xaviers Kunst ist das mit verheerender Wirkung zur Explosion gebrachte Schuldgefühl der Katholiken. Er malt nicht, er schlitzt auf und weidet aus. Seine überarbeiteten Christi sind wirkmächtiger als die von Bacon, da sie sich uns ohne Kontext präsentieren, zumindest ohne Bezüge, die wir in einem irdischen Bezugsrahmen zu deuten wüssten. Sie haben sich von der Geschichte losgelöst. Und was die Geographie betrifft, bleiben sie entschieden außerhalb des britischen und, so darf man annehmen, auch außerhalb des indischen Wirkkreises. Sie triefen vor Sex, Ketzerei und den Resultaten einer wahllosen Lektüre der Psychopathologie des Alltags, sie …«
    »Genug, hör auf, es reicht. Zeig mir die Bilder.«
    Die Redaktion hatte mehreren Reproduktionen von Xaviers Gemälden Platz eingeräumt. Da sah man einen blutverschmierten Christus, umringt von Dornen groß wie Eisenbahnschwellen, so dass die Gestalt selbst winzig wirkte, geschändet vor bluttriefendem Hintergrund. Und es gab ein Selbstporträt sowie zwei unbarmherzige Nackte, weiche, weiße Leiber, hingestreckt auf rostfreiem Stahl, die tote Haut runzelig im harschen Neonlicht. Stumm betrachtete Dimple die Bilder. Dann reichte sie mir das Magazin zurück und blinzelte mich an, als könnte sie nicht richtig sehen. Sie sagte: Er ist so wütend, dass er nicht klar denken kann, so wütend, dass er gemeingefährlich ist. Er will alles ins Hässliche ziehen, will die Welt ermorden. Wie, fragte sie, kannst du so einem Mann vertrauen? Wie kannst du seiner Meinung sein, wenn er sagt, dass die Menschen krank sind und den Tod verdienen?
    •••
    Nach einer Weile bat sie mich, ihr noch etwas vorzulesen, und langte unter die Pritsche, um ein auf Schülermanier in braunes Packpapier geschlagenes Lehrbuch vorzuziehen:
Das neue universale Unterrichtsbuch für Nichtchristen: Geschichts- und moralwissenschaftliche Prüfungsmaterialien
. Unter dem Titel stand der Name des Autors: S. T. Pande, Professor für Geschichte an der Universität Baroda. Sie hielt mir das Buch hin, schlug eine zuvor markierte Seite auf, und ich las einige Zeilen.
    »Gründer und Namensgeber des Christentums war Jesus Christus, der sich mit seiner gleichermaßen manischen wie magnetischen Persönlichkeit das radikale Ziel gesetzt hatte, die hierarchischen Gesellschaftsordnungen der Welt zu Fall zu bringen. Seine Radikalität, die sich vorwiegend in Form mystischer Äußerungen manifestierte, lässt sich am besten in folgendem indirektem Zitat zusammenfassen: ›Sei nicht zufrieden mit dem Zustand der Welt.‹ Er besaß eine scharfe Zunge, die besonders Priester zu spüren bekamen, aber auch die Wohlhabenden, die Politiker, Wucherer, Juden wie Nichtjuden und Freunde wie Feinde. Manche behaupten, er habe die besondere Gabe besessen, aller Welt unterschiedslos die Wahrheit zu sagen, andere behaupten, dies sei sein Fluch gewesen. Er war der Sohn von Maria, Jungfrau und Mutter, die mit einem lieblichen, birnenförmigen Gesicht gesegnet war und deren Anhänger sie auf folgende Weise anbeten: Gegrüßet seist du, Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!
    Jesus praktizierte unter anderem als selbsternannter Arzt, der Kranke durch bloßes Berühren mit dem rechten Zeigefinger heilen konnte. Ob diese Fähigkeit göttlichen Ursprungs oder schlicht eine Frage talentierten Umgangs mit Kräutern und Pflanzen war, darüber lässt sich nur spekulieren. Außer Frage steht allerdings die wundersame Wirkung, die er auf Kranke und Sterbende hatte.
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