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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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Waschmaschinen, für Sri Balajis Lotterie mit Rekordgewinnen, erster Preis zehn Lakhs Rupien, die Fotos von Kongressmännern und Verbrechern, die Kommentare zu Sex und Geld sowie zur katastrophalen Infrastruktur der Stadt, und mir schien, man könnte die Artikel ohne größere Änderungen in der heutigen Zeitung wieder abdrucken, ohne dass jemand etwas merken würde. In einem Notizbuch fand ich angefangene Listen: Die Namen der Nachtstunden, ein Vergleich von Gerüchen, etwa dem Geruch von Kordit mit dem von Schwefel, mehrere Definitionen des Wortes
Reue
; außerdem handbeschriebene Seiten, die Geschichte eines Traums mit dem Titel »Die Erfüllung«, in dem ein kleines Kind in einem Haus einschläft, aus dem die Erwachsenen verschwunden sind. In panischer Angst läuft der Junge durchs Haus. Dann lernt er. Er wartet in leeren Zimmern und irrgartenähnlichen Gärten. Er kümmert sich um die Blumen, wächst zu einem Jugendlichen heran, hält sich fit, bleibt wachsam und wartet. Er lebt in »einer Welt«, schrieb Dimple, »in der nur der Schmerz real war«. Den größten Teil der Geschichte umfasste der letzte Absatz, in dem der Junge hinter einer Brüstung nahe beim Meer wartet. Über das alte Haus in seinem Rücken und über den Himmel segeln Vögel. Er schaut hinaus auf die Wellen und wartet auf die Lichter eines Schiffes. Er glaubt, winzige gelbe oder blaue Stecknadelköpfe zu sehen, die in der Nacht größer werden, aber mit dem ersten Licht sind sie verschwunden. Auf wen wartet er? Wie lange muss er die Strapazen dieser Wache erdulden? Wie sehen erträgliche Folgen der Einsamkeit aus? Diese Fragen werden im Laufe der Geschichte aufgeworfen, doch nirgendwo beantwortet. Beim Lesen schlief ich ein und hörte spät abends über mir Schritte, ein Husten, ein Flüstern, Dinge wurden fallen gelassen. Ich wachte auf und fragte: Wer ist da? Ich meinte, Stimmen vor der Tür zu hören. Meine Nachbarn links waren eine vierköpfige Familie in einer Wohnung so klein wie meine. Den Vater habe ich nie gesehen, ein Arbeiter, der nur zum Schlafen nach Hause kam. Türen und Fenster ließen sie ständig offen, anders konnte man in der winzigen Bleibe nicht leben. Das jüngste Kind, ein etwa sechsjähriges Mädchen, las laut seine Hausaufgaben vor. Ich saß im Zimmer auf dem Sofa und lauschte der Stimme: »Wenn die Sonne aufgeht, sagen wir ›Guten Morgen‹.« Als ich mittags die Tür öffnete, musterten sie und ihre Mutter mich neugierig, vielleicht auch mitleidig. Da ich sie hören konnte, hörten sie gewiss auch, wie ich mit meinen unsichtbaren Gästen sprach. Ich stellte mich vor. Ich sagte: Ich heiße Ullis. Das sind meine Freunde. Das ist, was wir taten. Das ist, was wir sagten und was wir träumten. Mutter und Tochter schauten mich an, dann blickten sie hinter mich, als könnten auch sie die Schemen in der Luft sehen. Als meine Nachbarn an jenem Abend zu Bett gegangen waren, räumte ich im Zimmer einen Platz frei, zündete die Öllampe an und legte die Pfeife zurecht. Das ist die Geschichte, die mir die Pfeife erzählte. Ich habe sie bloß aufgeschrieben, Wort für Wort und mit demselben Wort beginnend, mit dem sie auch endet: Bombay.

Über Jeet Thayil
    Jeet Thayil ist Dichter, Performance-Künstler, Songwriter und Musiker. Mit ›Narcopolis‹ gelang ihm ein sensationelles Debüt und eine faszinierende Parabel auf das moderne Indien. Der Roman begeisterte weltweit die Kritik, schaffte es auf die Shortlist des Booker Prize sowie des Man Asian Literary Prize und gewann den DSC Prize for South Asian Literature. Thayil kam 1959 im südindischen Kerala zur Welt und lebt nach Stationen in Hong Kong, New York und Bombay heute in Neu-Delhi.
     
    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
    Erschienen bei FISCHER E-Books
     
    Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Narcopolis‹ bei Faber & Faber, London
    © Jeet Thayil, 2012
     
    Für die deutschsprachige Ausgabe:
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
    Coverabbildung: Jimmy Zombie
    Covergestaltung: buxdesign
     
    Die Zitate im Kapitel ›Dum Maro Dum‹ stammen aus dem Lied ›Dum Maro Dum‹ aus dem Film Hare Rama Hare Krishna (1971 unter der Regie von Dev Anand). Text von Anand Bakshi, Musik von Rahul Dev Burman.
     
    Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds, der diese Arbeit mit einem Stipendium gefördert hat.
     
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen
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