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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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hat, als ich klein war? Er sagte, wir stammen von den Moguln ab. Ich solle das nie vergessen und stolz darauf sein. Seither habe ich darüber nachgelesen: Ich habe erfahren, was die Moguln nach Indien brachten, ihre Erfindungen, Eis und fließend Wasser und durchdacht angelegte Gärten, eine Wohltat für Geist und Auge. Woran aber erinnern sich die Inder? Nur an die Schädelpyramiden. Sie sagen: ›Seht her, wie blutrünstig die Muslime waren: Schon damals haben sie gern getötet.‹« Ich sagte Jamal, es gebe einen Unterschied zwischen ihm und den Moguln, denn die Moguln hätten das Leben geliebt, die Lyrik und das Schöne. »Und was lieben Sie außer dem Tod?« Aus irgendeinem Grund gefiel ihm, was ich sagte. Wir gingen zu seinem Tisch; er setzte sich und starrte auf den Computer. Es war schwül. Ich saß im Besuchersessel und wischte mir mit beiden Händen über den Nacken.
    »Sehen Sie, was in Afghanistan passiert?«
    »Wer nicht? Ist ja ständig in den Nachrichten.«
    »Aber sehen Sie es wirklich? Und im Irak? Sie nehmen das alte Babylon ein, befestigen es, erklären es zur Schutzzone, und die ganze Zeit finden Ausgrabungen statt, ständig. Sie finden Sachen, die der Geschichte gehören und die sie zerstören oder stehlen.«
    »Ja.«
    »Stellen Sie sich vor, das geschähe in Washington DC , in Chicago oder New York; man würde die Büchereien in Brand setzen, Antikes stehlen, Städte und Landstriche bombardieren. Was würde dann passieren?«
    »Man würde uns damit endlos auf die Nerven gehen.«
    »In zwei Jahren gäbe es zwanzig Bücher und Filme darüber, das würde passieren.«
    •••
    Er schwieg einen Moment. Am Computer hing ein Bild von Jamal und einer jungen Frau in einer Burka. Farheen, meine Verlobte, sagte er, als ihm auffiel, dass ich mir das Foto ansah. Eine Liebesheirat. Sie ist zwei Jahre älter als ich. Einen Moment, sagte er dann, und rief quer durch das Büro einen Mann zu sich, der an seinem Bildschirm Bridge spielte. Der Mann gab das Spiel auf und kam herüber.
    »Das hier ist Kumar, ein hinduistischer Brahmane. Viele meiner Freunde sind Brahmanen. Kumar hat sein Leben lang noch kein Fleisch angerührt.«
    »Ach, reden Sie mir nicht von Fleisch«, sagte Kumar. »Ich sage immer, Tiere haben mehr Recht, auf der Erde zu sein, als wir.«
    Jamal schickte Kumar mit der Bitte fort, für uns frischen Tee zu holen. Und nachdem er so mit seiner Freundin angegeben hatte, seinem Brahmanen und seiner Weltläufigkeit, konnte er sich wieder dem Thema zuwenden.
    »Jeder könnte zum Selbstmordattentäter werden, wenn man ihn nur weit genug treibt. Einige meiner Freunde sagen, sie könnten sich das durchaus vorstellen. Wir … sie, meine ich«, er lächelte, um mich wissen zu lassen, dass er einen Scherz gemacht hatte, »sie würden es tun, wenn ihnen keine andere Wahl bliebe. Wissen Sie, was meine Freunde sagen? Man hat immer etwas, worauf man sich freuen kann, wenn man ein BP wird.« Wieder lächelte er und fügte erklärend hinzu: »Ein Bürger des Paradieses.«
    »Was aber kann ein Mann wie Sie am Paradies reizvoll finden? Sie sind weder machtlos noch wütend.«
    •••
    Er sagte, ich war auf einem christlichen College, und meine Freunde sind Hindus, aber ich bin durch und durch Muslim. Mein Vater wollte, dass ich eine gute Ausbildung bekomme, also hat er sich für das beste College entschieden, das er sich leisten konnte; die Konfession kümmerte ihn nicht. Ich war einer von vier muslimischen Schülern, die Lehrer waren Hindus und Katholiken. Eines Tages ertappte mich der Mathematiklehrer dabei, wie ich während seiner Stunde heimlich eine Zeitschrift las. Vor der ganzen Klasse hat er mich geohrfeigt und gesagt: ›Was glaubt ihr Leute eigentlich, wer ihr seid? Warum bist du in Indien? Du solltest in Afghanistan im Dschihad kämpfen.‹ Während der Unruhen hat mich der Mob von meinem Fahrrad gezerrt. Ich trug keine Kopfbedeckung und redete Marathi, trotzdem wollte man mich nicht laufen lassen. Dann sah ich die Hijra, die Kaamvali meines Vaters. Sie trug ein Kleid und war angezogen wie eine Christin. Ich habe auf sie gezeigt und sie meine Ma genannt.
    Dimple, sagte ich.
    Was glauben Sie, wie man sich dabei fühlt, sagte er. Mächtig? Mein Vater ließ uns jeden Abend aus dem Heiligen Buch vorlesen. Haben Sie das gewusst? Jeden Abend eine oder zwei Suren. Er kam völlig zugedröhnt nach Hause und ließ uns lesen, während ihm die Augen zufielen und der Sabber aus dem Mund troff. Jamal hielt inne, als
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