Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
Vom Netzwerk:
keine Sorgen machen, sie habe noch nicht vor zu sterben, trotzdem hatte sie sich von jenem Tag an verändert. Nein, nein, nicht von da an, erst, als sie aus dem Krankenhaus wiederkam. Wir mussten sie zur Behandlung dorthin bringen, eine grässliche Behandlung, die ihr das Haar ausfallen ließ und schlimmer schmerzte als die Krankheit. Nach ihrer Rückkehr war sie verändert. Sie erzählte, im Krankenwagen, der sie ins Hospital gefahren hatte, sei hinten ein Fenster gewesen, und während sie hinaussah, sei ihr Blick auf den Himmel sowie einige Bäume gefallen, und sie hatte auch den Sanitäter und den Fahrer gesehen, alltägliche Anblicke, die sie mit Freude und Dankbarkeit erfüllten. Warum Freude?, habe ich sie gefragt. Warum ausgerechnet Dankbarkeit? Weil, sagte sie, ich da begriff, was für ein glückliches Leben mir gegeben worden war, und weil ich alles verstand: die genaue Bedeutung der Sonne am unendlichen Himmel, das zitternde Laub der Bäume um uns herum und die nach Zuneigung hungernden Menschen, weil ich begriff, wie dumm es war, stolz oder wütend zu sein, und vor allem, wie falsch es war, jenen Zuneigung vorzuenthalten, die sie am meisten brauchten, also wir alle. Mehr nicht. Ich begriff, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dies endlich verstanden zu haben, ein bisschen spät vielleicht, aber immerhin. Bestimmt war es ihre Krankheit, die sie derart reden ließ, aber dennoch, Nasrani, mir kamen die Tränen, als ich sie so strahlen sah und sie so reden hörte, fast, als durchlebte sie eine Art Ekstase. Ich werde geliebt, sagte sie. Und auch Sie, mein lieber Freund, werden geliebt. Das hat sie mir gesagt. Nach ihrem Tod habe ich das Geschäft aufgegeben. Ich lernte zu beten, nicht fünf Mal am Tag, sondern sechs, acht Mal. Ich betete ständig, aber der Wurm konnte durch Beten nicht getötet werden. Er steckte immer noch in mir drinnen. Weißt du, mir wurde bewusst, dass ich nicht zum Lobe Gottes betete, sondern allein aus meinen ureigenen egoistischen Gründen, Gottes Gnade aber ist so groß, dass er mein Flehen trotzdem erhörte. Das gerade bedeutet ja Gnade, meinst du nicht auch? Dass sie jenen gewährt wird, die sie nicht verdienen. Also saß ich in meinem Sessel und betete, und irgendwann wurde ich belohnt. Eines Abends hörte ich unten in Zeenats Wohnung eine Tür gehen, hörte die Toilettenspülung und wie ein Stuhl über den Boden schabte. Dies ist ein stilles Haus, nachts ist jeder Laut gut zu hören. Anfangs habe ich nichts getan. Ich betete weiterhin, wusste jedoch, woher die Geräusche kamen. Einige Abende später hörte ich wieder eine Tür schlagen und ging nach unten. Das Zimmer war, wie sie es verlassen hatte, ist es immer noch, du hast es ja gesehen. Ich habe mich aufs Bett gesetzt und gewartet. Die Tür stand offen, und ich nahm an, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie auftauchte. Aber sie tat es nicht, sie kam nicht. Also habe ich meinen Alltag wiederaufgenommen, habe gebetet und geschlafen, bis ich eines Abends erneut etwas hörte. Diesmal beschloss ich, notfalls die ganze Nacht zu warten, aber ich schlief ein. Als ich wach wurde, war mir klar, dass sie nicht kommen würde. Ich ging ins Bad, und da habe ich sie dann gefunden, auf dem Toilettensitz, die Augen voller Angst. Was hat dich so lange aufgehalten?, habe ich gefragt. Ich erzählte ihr von meinem Leben, dass ich Nasha aufgegeben hatte und meinen Geist mit Gebeten füllte. Ich erzählte von meiner Familie, meiner Einsamkeit, von ihr. Ich erzählte ihr, wie sehr ich sie vermisst hatte. Und ich fragte sie noch einmal, was sie so lange aufgehalten hatte. Ich sagte, ich hätte so sehr darauf gewartet, dass sie mir erschiene. Und da kam der einzige Moment, wo sie ihr altes Selbst wiedergewann. Erscheinen, fragte sie. Hören Sie mal zu: Ich bin kein Geist. Ich bin immer noch hier. Ich bin die ganze Zeit hier gewesen, Ihnen aber aus dem Weg gegangen. Tote werden nicht immer zu Geistern. Wir sind wie Träume, die von einem zum anderen wandern. Wir kehren zurück, aber nur, wenn ihr uns liebt. Ich sagte, sie brauche mir nicht alles zu erklären; ich würde mich freuen, wenn sie einfach eine Weile bei mir sitzen bliebe. Verstehst du, Nasrani, ich bin jetzt ein dummer alter Mann und rede immer noch mit ihr, von Tag zu Tag mehr.
    •••
    Zurück in meiner Wohnung in Bandra sah ich die Zeitungen durch, die ich aus Dimples Zimmer mitgebracht hatte, die Zeitschriftenanzeigen für
Duckback
-Regenplanen und für halbautomatische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher