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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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mindeste, niemand täte das, niemand begreife, dass für ihn nichts so wichtig war wie die schlichten Tatsachen des Lebens, die waren ihm wichtiger als alle Ideen oder Politik. Ein auf der Suche nach sich selbst gelebtes Leben war für ihn die größte Kunstform. Aber wie er das sagte, klang es, als könnte er seinen eigenen Worten nicht glauben.«
    »Wie ist Rumi gestorben?«
    »Irgendwer hat ihm den Schädel mit einem Betonbrocken aus einem Abflussrohr eingeschlagen. Man sagt, es sei der Pathar Maar gewesen, aber das glaube ich nicht. Ich denke, der Pathar Maar ist schon lange tot oder in eine andere Stadt gezogen. Vielleicht wurde Rumi ja das Opfer eines Trittbrettfahrers. Der Fall blieb ungelöst.«
    Langsam erhob sich Rashid, fischte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und gab ihn dem Mädchen. Er trug ihr auf, mich zur Wohnung auf halber Treppe zu führen. Zeenats alte Wohnung, sagte er. Unterm Bett liegt ein Koffer. Sie wird dir helfen, ihn heraufzutragen.
    •••
    Es war ein altes, für Bombay typisches Apartment mit hohen Decken und gefliestem Boden. Die Eingangstür führte ins Wohnzimmer, in dem ein iranischer Marmortisch nebst einigen Stühlen stand. Der Rest war vollgestopft mit Computerzubehör, mit veralteten oder kaputten Tastaturen und Terminals. Das Mädchen ging nach hinten und wies mit einem Kopfnicken auf einen Blechkoffer unter einem schmalen Bett. Ich zog ihn vor, und gemeinsam trugen wir ihn zu Rashid. Er hakte einen Verschluss auf, klappte den Deckel zurück, und eine Handvoll Zeitungsausschnitte und Dokumente fielen zu Boden. Sie waren auf Chinesisch und zeigten das Foto eines jungen Offiziers in Uniform. Rashid zog ein Einkaufsnetz heraus, so eines, das Bombays Hausfrauen mit Koriander, Zwiebeln und Tomaten vollpacken. Im Netz lag eine Pfeife, die einzige, die überdauert hatte. Er gab sie mir. Ich roch am Pfeifenkopf und meinte, langvergangene Düfte zu riechen, einen Geruch wie Melasse, Schlaf und Krankheit.
    »Du kannst sie haben«, sagte Rashid. »Ich will sie nicht.«
    Ich sah das Glas mit dem Gebiss, das Rumi an Rashid verkaufen wollte, und fragte, ob ich das haben könnte.
    »Was willst du damit? Der Regierung für viele Millionen Rupien verkaufen? Nimm, was dir gefällt. Jamal will alles wegwerfen.«
    Ich wühlte die Sachen im Koffer durch und bildete zwei kleine Haufen. Die Opiumpfeife und das Gebiss legte ich auf einen Haufen, dazu einen Zeitungsausschnitt des
Indian Express
, ein Lehrbuch, einige Notizhefte und eine Ausgabe von
Sex Detective
.
    »Was willst du mit all dem Kram anfangen?«, fragte Rashid.
    »Wer weiß? Vielleicht stelle ich ihn in einem Museum aus.«
    »Ja, warum auch nicht? Mach unsere Schande öffentlich, damit man uns Menschen am untersten Rand der Gesellschaft versteht, den allerletzten Dreck, die Prostituierten, Ganoven und Drogensüchtigen, Menschen ohne Glauben an Gott oder Menschen, die an nichts außer an die Wahrheit ihrer eigenen Sinne glauben. Findest du das lohnenswert?«
    Seine Stimme klang schwach, als müsste sie eine weite Strecke zurücklegen, um verstanden werden zu können. Das Licht im Zimmer begann zu verblassen, und in der Luft draußen bewegten sich Schemen, schmale, peitschenförmige Schemen unter Mangobäumen. Wir saßen nebeneinander, während es im Zimmer dunkel wurde. Ehe das Mädchen ging, machte es Licht, aber die Tischlampen verstärkten nur den Dämmer, badeten jeden Gegenstand in fahlem gelbem Schimmer. Reglos saß Rashid da, doch als ich aufstand, um zu gehen, erhob er sich ebenfalls, und in dem Zwielicht, in dem zwischen uns die alten Geister schwammen, sah ich die Verwirrung in seinen Augen.
    •••
    Ich wollte dir etwas erzählen, sagte er. Ich weiß nämlich, was du getan hast. Du hast sie ins Center gebracht, und das war gut so. Allerdings kam sie zurück. Hast du das gewusst? Als sie krank war, zog sie zum Sterben in ihr altes Zimmer. Ich wusste, dass sie krank war, weil sie den ganzen Tag im Sessel saß, einfach nur dasaß wie ein alter Mann. Dann aber, eine Woche nach dem Ramadanfest, wurde es schlimmer, und Dr. Belani kam, um nach ihr zu sehen, unser alter Familienarzt, ein Sindhi. Er flüsterte mir zu, sie sei sehr krank, mit ihr aber scherzte er und sagte, sie sei stark wie ein Ochse, und Zeenat erwiderte im selben Ton, dass sie den Vergleich aber nicht besonders schmeichelhaft finde. Später gestand sie mir, ich weiß, was er gesagt hat, mit meinem Gehör ist noch alles in Ordnung. Sie sagte, ich solle mir
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