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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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Deshalb wurden die Gebrechlichen zu Christen und auch die Armen, die Allerniedrigsten bekehrten sich zum Christentum, da sie darin Trost in einer dem Kastendenken verhafteten Welt fanden.«
    War dies, fragte ich mich, Professor Pandes Stil? So zu schreiben, als hätte er Tag und Nacht an der Seite von Jesus und Maria verbracht, sich Notizen gemacht und Zugang zu vertraulichen Informationen erhalten, die er nun seinen glücklichen Lesern zukommen ließ? Ich sagte Dimple, dass ich den Professor, sofern er denn einer sei, für eine unzuverlässige Quelle hielt, auch wenn ich ihn durchaus unterhaltsam fände. Es sei ja nicht weiter schlimm, unzuverlässig zu sein, ergänzte ich. Wer war das schließlich nicht? Und überhaupt, was brachte es denn, so verlässlich wie ein Hund zu sein, wie ein Auto oder ein Sessel? Ich sagte, ich fände es völlig in Ordnung, solange er nicht behauptete, er wäre Historiker oder Moralwissenschaftler. Dimple kümmerte das nicht. Sie war süchtig nach Geschichten, sie war die Art Leserin, die es hasste – wenn sie denn hätte lesen können –, zur letzten Seite eines Buches zu gelangen. Also hielt ich Professor Pandes Buch aufgeschlagen über meiner Brust und fuhr fort:
    »Jesus wurde auf ziemlich grausame Weise gekreuzigt, doch starb er mit einem Lächeln auf den Lippen. Diese glückliche Miene übte auf seine Jünger eine große Wirkung aus, ebenso wie die von ihm bewirkten Wunder. Überhaupt war er der perfekte Selbstdarsteller, da er auch unter ungünstigsten Bedingungen mehrmals die Woche auftrat. Einmal machte er fünftausend Menschen mit nur fünf Laib Brot und zwei Fischen satt.«
    »Fünf Laib Brot und zwei Fische«, überlegte Dimple, »das heißt, mit einem halben Dutzend Fische bekäme er all die Armen von Bombay satt, nein, quatsch, nur die Armen der Shuklaji Street. Trotzdem, er hätte in Indien zur Welt kommen sollen.«
    •••
    Sie trat ans Fenster und spuckte auf die Straße. Sie hatte Brandnarben an den Fingern, und die Fußnägel waren schwarz lackiert. Am Schlüsselbein prangte ein mondförmiger blauer Fleck, weshalb sie die Bluse bis oben geschlossen hielt. Für einen Moment stand sie so am Fenster, blickte auf die Straße und würde ihr Leben lang nicht mehr vergessen, wie Handkarren den Staub ins Sonnenlicht wirbelten und wie sie damals lebte, im Bordell, an der Tür die rote Nummer  007 , im Bad, das sie mit den übrigen Huren teilte, ein erdnussförmiges Loch im Boden, in das sie pinkelten, sie alle, auch die Kunden. Sie erinnerte sich an die Frauen, mit denen sie arbeitete, die jungen und nicht mehr so jungen Frauen aus vielerlei Dörfern und Städten, aus Secunderabad und Patna, Kalkutta und Katmandu, nach Bombay geschickt, um Geld für die Familien zu verdienen, Geld, das daheim nie ankam, da die Bordellmütter vergaßen, es abzuschicken. Und Dimple würde sich auch daran erinnern, dass sie um diese Zeit beschloss, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, damals, als sie zu lesen begann, den Kopf auf der Pritsche, im Schneidersitz oder vornübergebeugt, wie sie mühsam die Buchstaben entzifferte, bis der Schlaf sie überkam. Beim Aufwachen wusste sie, dass ihre Zeit im Bordell dem Ende zuging, dass sie bald gehen würde, dass sie wahr werden würde, die Zukunft, falls sie, Dimple, nicht in ihrer Entschlossenheit nachließ, wenn sie nur durchhielt, und sie wusste, was auch geschah, was immer sie auch erreichte oder nicht erreichte, würde Zeugnis ablegen von ihrer Zeit im Bordell.
    •••
    Geschah es an diesem oder einem anderen Nachmittag, dass sie eine Ausgabe von
Sex Detective
hervorholte, jenes Journal für wahre Verbrechen, nach dem Bengali so süchtig war? Sie blätterte, bis sie die Fotogeschichte fand:
Verheirateter Schürzenjäger erhält verdiente Strafe
. Im ersten Bild schenkt ein Mann in Blumenhemd und Schlaghose einer vollbusigen Frau eine Sonnenblume. Der dazugehörige Text steht in Comicsprechblasen. Dimple zeigte auf die Stellen, die ich ihr vorlesen soll.
    »›Wie schlau von Ihnen. Sie schenken mir eine Blume und wollen dafür die Blume meiner Jugend pflücken.‹ Ihr heißer Atem vereint sich. Augen verraten, wie groß das Verlangen ist. Prakash und Priya kommen einander näher, um sich an den Säften der Liebe zu ergötzen. ›Deine aufreizende Berührung betört die Blume, Prakash, bitte, netze die Jungfräulichkeit der Blüte mit den Tropfen deiner Manneskraft.‹ Prakashs Finger berühren Priyas Lippen und erwecken ihren
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