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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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und Chicks‹, außerdem sei er ›kunst-besessen und ich-bezogen‹ sowie ›verrückt und bösartig, die Bekanntschaft mit ihm ehrenrührig‹. Er war weltgewandt, bissig, fotogen, altklug und ein Dichter. Die TLS behauptete, die beiden unter dem Titel
Lieder für Gehörlose
veröffentlichten Gedichtbände seien noch wirrer als seine Gemälde, doch erkundeten sie dieselben Themen, d.h. die Welt als Manifestation des entfremdeten Geistes sowie die drei großen Religionen – Islam, Hinduismus und Christentum – als Beweis dieser Entfremdung. Eingehend studierte ich die Reproduktionen seiner Bilder, die ich in Zeitschriften fand, insbesondere die Hindu-Christ-Serie. Wegen dieser Gemälde wird er in Erinnerung bleiben, dachte ich, wegen der Bilder von Christus mit blauer Haut, Rehaugen, Kajal und Kastenzeichen. Christus, wie er auf der Flöte spielte, die Kleider badender Dorfnymphen stahl oder in einer Höhle meditierte: Seltsame Porträts in lebhaft indischem Rot und Gelb.
    Xavier trat im PEN -Zentrum an der New Marine Lines auf. Ich fuhr mit der Bahn von der Grant Road nach Churchgate und lief dann zu Fuß zur Theosophy Hall. Etwa ein Dutzend Leute wartete schon. Deckenventilatoren an langen Stangen wirbelten Staub und warme Luft durch den großen Raum. An den Wänden reihten sich alte Bücher auf glasgeschützten Regalen aneinander. Man konnte sie nicht anfassen, und sie sahen aus, als würden sie sich beim leisesten Windhauch in Nichts auflösen. Alle drei Bände von
Die Geheimlehre
waren da, auf langen Tischen ausgelegt, eine kleine, ledergebundene Edition, die in Bombays feuchtem Klima zerfiel. Ich schlug eines der Bücher auf, blätterte es rasch durch und las die biographische Notiz am Ende. Wie es sich für eine berühmte Autorin gehörte, verbrachte Madame Blavatsky ihre Zeit in den Hauptstädten der Welt: Ihre Asche lag auf drei Kontinenten begraben, und ihr Porträt, das die Haupthalle schmückte, war das auffälligste Bild im ganzen Saal. Die alte Scharlatanin posierte mit in die Hand gestütztem Kopf und versuchte mit aller Macht, die Kamera zu hypnotisieren. Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Lippen. Welch seltsame Bühne für den Auftritt des gottlosen Katholiken Newton Xavier.
    •••
    Ich setzte mich auf einen Stuhl in der ersten Reihe. Es war Mai, und die Besucher fächelten sich mit Zeitungen Kühlung zu. Ich nahm mir ein gefaltetes Blatt, das auf den Boden gefallen war. Es zeigte eine schwarzweiße Reproduktion eines seiner frühen Bilder, einen geblendeten, blutenden Christ, die optisch verkürzten Arme erhoben, die Hände so grob ans Kreuz genagelt, dass sein Blut dem Betrachter entgegenspritzte. Beidseits dieser brutal malträtierten Figur standen zwei makellose Büsten, ein Mann im Morgenmantel, eine Nackte mit Sommerhut. Die Reproduktion war so verschwommen, dass man gerade noch den großen Busen der Frau und die Signatur erkennen konnte:
Xavier 77
. Darunter stand ein Gedicht:
    Sonett
    Gott & Spott & Klag & Tag
    Lebe ewig, Menschen gleichgestellt.
    Nichts stirbt, nichts da, sag
    Ich. Nach Plan dreht sich die Welt.
    Alles endlos wiederverwertet
    Zu unendlichem Leben:
    Wie du lachst & sagst: »Teufel nochmal«,
    Fliege, Licht, das tote, junge Wesen,
    Sie alle leben & werden immer leben
    Hier oder anderswo
    Also – öffne die Arme, um mir zu geben
    Den Duft der Haut & deines sauberen Haars
    Halte mich, deinen verlorenen Bruder,
    Liebe mich, damit wir leben immerdar.
    Das Sonett stand in seltsamem Zusammenhang mit seinen Bildern. Da war diese Obsession mit Sex und Religion, die grandiose Selbstüberschätzung, die exzentrische Interpunktion. Ich wollte es noch einmal lesen, aber die Frau neben mir beschwerte sich mit einer Stimme, die durch den ganzen Saal hallte: »Schlimm, sehr schlimm. Schon vierzig Minuten Verspätung. Was glaubt er denn, wer er ist? Rajesh Khanna?«
    In ebendiesem Moment tauchten sie auf: Ein grauhaariger Mann in einer Kurta stützte einen zweiten grauhaarigen Mann in einer Kurta, beide offenkundig betrunken; den Abschluss bildete irgendein bediensteter Kulturmensch, ein Moderator in kurzärmeligem, blauem Hemd, auf der Brusttasche die in Rot gestickten Buchstaben PEN . Letzterer schien immerhin nüchtern zu sein. Der erste Betrunkene, Akash Iskai, war Dichter und Kunstkritiker; sein Name wurde oft in den Zeitungen genannt. Er half seinem Freund in einen Sessel und schlurfte dann zum Stehpult, wo er zu einer langen, unvermutet schlüssigen Rede
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