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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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über moderne indische Kunst anhob.
    »Xavier und seine alten Freunde und Kollegen von den Modernen Autisten haben die moderne Kunst Indiens erfunden«, sagte er gegen Ende. »Ich wähle dieses Wort mit Bedacht, denn diese Senioren der Kunst …«
    »Um Himmel willen«, unterbrach ihn Xavier, »nenn mich bloß nicht Senior; noch bin ich kein trotteliger alter Kauz. Und meine Freunde waren sie schon gar nicht: Unsere Wege haben sich vor langer Zeit getrennt. Wenn überhaupt, dann sind wir alte Gegenspieler.«
    Der Dichter ließ sich von dieser Unterbrechung nicht irritieren. Die Modernen Autisten waren tollkühn und originell, fuhr er fort, und wagten sich in bis dahin unerforschte Bereiche vor. Sie blieben selbst dann noch echte Innovatoren, wenn sie auf Abwege gerieten und zügellos über die Stränge schlugen, ja, sie waren Naivlinge im urbanen Dschungel. Er nannte sie kultfreie Wunder, aber möglicherweise habe ich das auch falsch verstanden, er könnte auch schuldfrei gesagt haben. Ich war da wohl ein wenig eingenickt. Diese kühnen Männer, denn es handelte sich ausnahmslos um Männer, stürzten die Diktatur der Akademien, sagte Iskai, und die Schulen von Hier und Dort. Sie schufen Neues, um es mit Ezras unnachahmlichen Worten zu sagen, und das ist, wie wir Dichter wissen, weniger ein Diktum als ein praktischer Ratschlag. Sobald das Wort Dichter fiel, murrten die Zuhörer unzufrieden, und da Iskai spürte, dass er ihre Aufmerksamkeit verlor, wandte er sich an Xavier, der reglos neben ihm im Sessel saß.
    »Vielleicht könntest du uns erzählen, worum es bei diesem Streit ging?«
    »Um Farbe, Bruder Iskai. Worum sonst? Sie brachte uns zusammen, und sie riss uns entzwei. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass die Lage damals viel verzweifelter war. Wir gingen zur JJ School of Art und lernten Malen nach Zahlen, lebten vom Toten, das uns die Royal School und die Bengal School auftischten, und dann entdeckten wir Picasso, van Gogh und Gauguin. Wir waren jung, beflügelten uns gegenseitig. Die Welt stand uns weit offen. Mittlerweile haben sich die Dinge natürlich geändert. Ich halte nichts mehr von deren Umgang mit Farbe und sie zweifellos nichts von meinem.«
    Während der von diesem Ausbruch erschöpfte Maler ausdruckslos ins Publikum starrte, machte sich eine unbehagliche Stille breit. Sie zog sich in die Länge, bis hinten im Saal eine kleine Gestalt die Hand hob, und Xavier auf den Mann deutete.
    »Hat die Kunstakademie Ihnen denn nichts über Farbe beigebracht?«
    »Ganz bestimmt nicht«, antwortete Xavier. »Was ich über Farbe weiß, habe ich von den Blumen gelernt. Reden wir nicht über Akademien.«
    »Keine weiteren Fragen bitte«, sagte Iskai. »Dafür ist später noch Zeit. Wir wollen doch die Reihenfolge beachten. Zuerst wird unser Ehrengast nun eine Rede halten. Bitte begrüßen Sie mit mir Indiens ureigenen Sohn Newton Xavier.«
    Allerdings war der Ehrengast leider nicht in der Lage, sich aus seinem Sessel zu erheben. Der Moderator fasste Xavier unter den Achseln und versuchte, ihm beim Aufstehen zu helfen. Vergebens. Dann schlug Iskai vor, Xavier möge seine Rede im Sitzen halten, und der Moderator reichte ihm ein Blatt Papier. Der Maler hielt es in zittriger Hand, mit der anderen umklammerte er in zweifingrigem Zangengriff seine Brille. Er sah alt aus, todkrank. Ich war nicht der Einzige, der damit rechnete, ihn jeden Augenblick aus dem Sessel rutschen zu sehen, und mir ging auf, dass sich die Leute im Publikum überhaupt nicht für Xaviers Gedichte oder für seine Ansichten über Farbe interessierten. Sie waren gekommen, weil sie sehen wollten, ob das Enfant terrible der indischen Kunst seinem Ruf gerecht wurde. Sie hofften, er würde vor ihren Augen in Rauch aufgehen, würde implodieren, an einem Herzinfarkt krepieren oder aus dem Sessel aufspringen und jemanden aus dem Publikum vergewaltigen. Je drastischer er sich benahm, desto zufriedener würden sie sein. Es war Voyeurismus der übelsten Sorte, und begierig registrierten wir die Einzelheiten: die Flecken auf seiner Kurta – Wein? Blut? Sperma? –, die schäbigen Gummilatschen, die Suffstoppeln und schnellen Blicke, die Todesblässe und die wunderbare Tatsache, dass er zu besoffen war, um aufstehen zu können.
    »Jetzt wissen wir wenigstens, was mit sternhagelvoll gemeint ist«, sagte die Matrone neben mir in einem lauten Flüsterton, der im ganzen Saal zu hören war.
    »Madam, ich habe Sie bereits vorhin wegen Ihres vorlauten Benehmens
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