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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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weil sich die bescheidene Hütte seiner Kindheit zu einem Landsitz mit Swimmingpool und Garten gemausert hat; vereinzelt kann er auf dem Rasen sogar Kinderspielzeug entdecken. Die Bande beginnt mit dem Abstieg, als der Junge seine Meinung ändert. Sie werden die Stadt umgehen und weiterziehen, sagt er. Und das Gedicht endet mit den Zeilen:
    Ich wollte nicht unbedingt zurück;
    Denn wer kennt sein Zuhaus? Ich war allein,
    Und wollte stets nur raus,
    Nach Anderswo, Irgendwo, nur nicht nach Haus.
    Xavier fuhr fort zu reden, las aber nicht länger aus dem Gedicht vor. »Ich wachte heute Morgen bei strahlendem Sonnenschein auf«, sagte er, »vielleicht war es auch gestern Morgen. Jedenfalls wachte ich bei herrlichem Wetter auf und dachte, für manche wird’s ein schöner Tag. Ich …«
    »Warum konnte es denn für Sie kein schöner Tag werden? Sie sind doch bloß nach Indien gekommen, um dem Winter zu entfliehen. Die Zeitungen melden, Sie ziehen von England in die USA , um Bürger eines reichen, oder sollte ich sagen, eines noch reicheren Landes zu werden. Es heißt, das Exil bekomme Ihnen gut.«
    Es war der kleine Mann hinten im Saal, der sich zuvor schon gemeldet hatte. Iskai sagte, es sei immer noch keine Fragestunde, und bat den Mann zu warten. Xavier erwiderte, er habe nie behauptet, Bürger des Exils zu sein. Die Formulierung sei ihm viel zu modisch und zu großspurig, um seinen Zustand beschreiben zu können, der weit weniger dramatisch sei und eher mit Rastlosigkeit und der Suche nach besseren Möglichkeiten zu tun habe. Er sagte: Es stand nie in meiner Absicht, Bürger der Vereinigten Staaten zu werden. Ich bin und werde auch weiterhin lieber ein Bürger erster Klasse meines eigenen Landes sein als ein Bürger zweiter Klasse in der Fremde. Allerdings bewerbe ich mich um den Status eines Ausländers mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, eine Visakategorie, die ich jedem Bewerber um eine Greencard nur empfehlen kann.
    Meine Nachbarin sagte: Moment mal und holte Stift und Notizbuch aus ihrer Handtasche. Mein Sohn interessiert sich für ein Studium in den USA . Könnten Sie bitte die Details für dieses Visum nennen? Sie wartete, Stift in der Hand, aber Xavier gab keine Antwort. Er saß unbeweglich da und schaute mit glasigem Blick in die Menge. Vier, fünf Sekunden lang herrschte Stille. Dann entfuhr seinem Mund ein einziges, durchdringendes Schnauben: Er hielt sich aufrecht, die Augen waren weit geöffnet, doch er war fest eingeschlafen. Plötzlich schien der ganze Saal Fragen stellen zu wollen. Iskai setzte zu seinen abschließenden Bemerkungen an, nur erhob sich in der ersten Reihe ein älterer Mann und verschaffte sich durch schiere Willenskraft über der Menge Gehör. Xaviers lautes Schnarchen unterstrich seine Frage:
    »Forster sagte, Patriotismus sei des Schurken letzte Zuflucht, und Johnson behauptete, er würde lieber sein Land als einen Freund verraten. Yeats meinte, das Pack sei voll leidenschaftlichen Erlebens. Ihre frühen Bilder verzichten auf patrilineares Gehabe zugunsten entschiedener Provokation. Vor diesem Hintergrund finde ich Ihre ablehnende Haltung zur Einbürgerung in die USA schlicht unglaubwürdig. Warum nehmen Sie die amerikanische Bürgerschaft nicht an, wenn sie für Sie tatsächlich keine Bedeutung hat? Meine Frage ist demgemäß zweigeteilt. Wollen Sie sich nur Ihrem heimischen Publikum anbiedern, wenn Sie derartige Statements abgeben? Und damit zusammenhängend: Haben Sie bereits Stellung bezogen hinsichtlich der neuesten Entwicklungen im programmatischsten aller Länder, der Sowjetunion?«
    »Newton?«, sagte Iskai.
    Xavier sprang auf und sagte: »Ja, gewissermaßen« und sackte in die Arme des Moderators, der ihn sanft wieder in seinen Sessel gleiten ließ. Dann fuhr Xavier fort: »Ich weiß erst heute, was Farbe bedeutet.«
    »Und was bedeutet sie?«, rief der kleine Mann von hinten.
    »Wie?«
    »Sie sagten, Sie wissen jetzt, was Farbe bedeutet.«
    Xavier sah den Mann zum ersten Mal an.
    »Farbe ist eine Art und Weise des Redens, nicht des Sehens. Dichter brauchen Farbe, Musiker auch, Maler sollten sie vergessen. Farbe ist, wenn Sie mir dies nachsehen wollen, eine Krücke vergleichbar mit der Notwendigkeit Gottes. Einige europäische Maler des neunzehnten Jahrhunderts fanden Gottes Abwesenheit so unerträglich wie die Abwesenheit der Farbe. Sie nutzten das gesamte Spektrum für jede noch so unbedeutende Kleinigkeit, eine regennasse Straße, ein Haus am Rand der Klippe, Boote auf einem
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