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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis
Autoren: Jeet Thayil
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gerügt. Halten Sie bitte den Mund, oder ich sehe mich gezwungen, Sie hinausbefördern zu lassen«, fuhr Iskai meine Nachbarin plötzlich wütend an.
    Jemand hatte ein Glas Wasser vor Xavier hingestellt, doch als er es anhob, verschüttete er einen Teil auf dem Tisch und stellte das Glas wieder ab, ohne es an die Lippen geführt zu haben. Er wolle ein neues Gedicht vortragen, sagte er, und sprach so leise, dass sich das Publikum vorbeugte, um ihn besser verstehen zu können. Dann begann er zu lesen, und seine Stimme klang sanft, die Worte wurden makellos artikuliert, der Akzent war voll, satt und neutral, weder britisch, noch amerikanisch oder indisch, sondern göttergleich. Vor allem aber verblüffte der Ton absoluter Autorität. Ich hörte die Kälte darin mitschwingen, und mir lief ein Schauder über den Rücken, selbst in dieser Hitze überlief mich ein Schauder.
    •••
    Das Gedicht, in gereimten Vierzeilern verfasst, spielt in der Zukunft, in einem kriegsgebeutelten Ödland der Hungersnöte oder Krankheiten; eine ungenannte Katastrophe hat einen Großteil der Weltbevölkerung dahingerafft. Um sich gegen das Unsichtbare zu wappnen, wurden die Nationen in kleinere Staaten aufgeteilt, jeder mit eigener Regierung, Religion, Sprache und ureigenen Bräuchen. Reisen von Stadt zu Stadt sind irrsinnig kompliziert und Reisen von Land zu Land von allen Staaten verboten. Jeder Bürger muss ständig seinen Pass bei sich tragen. Xaviers Gedicht dreht sich um einen marokkanischen Jungen vom Land, der eines Tages krank wird, als er zur Schule gehen will. Die Eltern bringen ihn ins Hospital nach Fez und bekommen von den Behörden zu hören, dass ihr Sohn nie wieder aus dem Koma erwachen wird; außerdem berge jeder weitere Kontakt mit ihm nur die Gefahr einer Ansteckung und könne überdies eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen, da sie sich außerhalb ihres Stadtbezirks befänden und gegen das Gesetz verstoßen hätten, als sie nach Fez aufbrachen, selbst ihre bloße Anwesenheit bräche geltendes Gesetz. Die Eltern sehen sich folglich gezwungen, den Sohn im Stich zu lassen und in ihr Dorf zurückzukehren, wo die Mutter bald unter Agoraphobie leidet und der Vater beginnt, systematisch die weiblichen Insassen der kleinen Nervenheilanstalt zu missbrauchen, in der er arbeitet. Der Junge wacht in einer Stadt auf, die er nicht kennt, allein in einem Zimmer mitten in der Nacht, nur ist es gar nicht dunkel, da rotes Licht durchs Fenster fällt. Er denkt: Ich bin tot, genau wie Jed-di, Ammi und Abba. Alle sind gestorben, und ich bin in der Hölle, wegen all der schlimmen Sachen, die ich angestellt habe. Er weiß nicht, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet, und bleibt im Bett, angeschlossen an einen Glukosetropf und einen Monitor. Dann fällt ihm auf, wie rot das Mondlicht wird, so leuchtendhell, dass es scheint, als wollte ihm der Teufel selbst einen Besuch abstatten. Der Junge tritt ans Fenster und sieht, dass das Gebäude in Flammen steht. Er rennt über die endlosen Flure des Hospitals, in dem man ihn, wie er bald begreift, allein zurückgelassen hat. Dann folgen zwei Vierzeiler mit Landschaftsbeschreibungen, die Wüste bei Nacht und in der frühen Morgendämmerung, anschließend Überlegungen, wie notwendig es sei, Trinkwasser zu finden, wie gut sich getrocknete Früchte und Honig tragen lassen, die doch so gesund sind, und welch wundersame Heilkräfte manchen Kakteenarten innewohnen. Als das Gedicht sich wieder dem Jungen zuwendet, ist er schon fast erwachsen und der Anführer einer Bande von rebellischen Nomaden, von Jugendlichen wie ihm, die nachts weiterziehen, sich tagsüber verstecken und von der Großzügigkeit der Dorfbewohner leben. In jenem Winter, in dem der Junge achtzehn wird, kommt er mit seinen Kameraden zu einer Kleinstadt, in der er bald sein Heimatdorf wiedererkennt, das inzwischen zu einem Ort von einiger Bedeutung angewachsen ist. Von einem Hügel herab starren sie auf das schlafende Kaff, und der Junge erkennt den Friedhof wieder, die Nervenheilanstalt, in der sein Vater gearbeitet hat, die Bäckerei und das Café, doch so sehr er sich auch anstrengt, das eigene Elternhaus findet er nicht. »Gehen wir hin und spazieren ein bisschen durch die Gassen«, schlägt sein engster Freund vor, der auch sein stellvertretender Anführer ist. »Wir laufen um die Ecken, bis wir’s entdecken, / dann schlafen wir.« Der Junge gibt keine Antwort. Er begreift, dass er sein Zuhause nicht wiedererkennen konnte,
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