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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt
Autoren: Tanja Langer
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Heumann denke, befällt mich eine Stimmung,
     die mich an die erinnert, die ich vor langer, langer Zeit erlebt habe, mit Eva und Robert und mir selbst, dem jungen Mann.
     Eine Stimmung wie Eva nackt an ihrem Waschbecken.
    |305| Ich war jung und bin es nicht mehr. Vielleicht verging die Zeit früher gar nicht langsamer, vielleicht erlebte ich nur alles
     so intensiv, daß sie sich dehnte. Und vielleicht nahmen wir uns mehr Zeit für andere Dinge. »
It is summer in Siam«
, singen The Pogues, und ich möchte aus dem Fenster brüllen: Sehnsucht! Ich will eine, die sich sorglos die Schnürsenkel bindet,
     eine, deren Höflichkeit wild ist und zärtlich.
     
    Heumann wohnt im Hinterhof, wie ich, im vierten Stock. Seine Wohnung besteht aus einem großen Zimmer, einer winzigen, zum
     Zimmer hin offenen Küche und einem Bad. Der Boden ist grau lackiert, wie damals Evas Flur. Hohe Regale mit Büchern bedecken
     die eine Seite des Raums, Bilder die andere, alles Originale, große Fenster gehen auf den Hof hinaus. Er schläft auf einem
     ausklappbaren Sofa. Er hat einen Kohleofen, wie früher.
    Ich führe ein freies Leben, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. Dafür habe ich wenig Geld.
    Ich schluckte. Wir setzten uns ans Fenster in der Küche. Die Dämmerung tauchte den Himmel in ein lichtes Rosa. Die Kastanie
     im Hof trug nur noch wenige Blätter. Ich hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht.
    Was ich nicht verstehe, sagte ich irgendwann: Wieso hat sie mit dir auch keinen Kontakt gehalten?
    Ich hatte zu viel mit der Kunst zu tun, sagte Heumann. Mit der ganzen Zeit. Vielleicht – aber warte, jetzt will ich dir zeigen,
     was sie mir noch dagelassen hat!
    Ich weiß nicht, sagte ich.
    Komm schon, sagte Heumann. Einen Augenblick. Ich muss Kohlen nachwerfen.
    Er stand auf, und ich hörte ihn am Ofen hantieren. Ich sah aus dem Fenster, die Dunkelheit begann, das letzte Licht zu essen;
     in den Wohnungen gegenüber wurde die eine oder andere Lampe angeschaltet. Ich betrachtete die Gläser und das wenige Geschirr,
     gute Einzelstücke, fünfziger Jahre, zwanziger |306| Jahre; die Wand hinter mir war von oben bis unten mit Büchern bedeckt, davor stapelten sich Bücher. Die Zwiebeln musste er
     wohl auf der Kant-Ausgabe schneiden, die auf der sauberen Ablage neben dem Waschbecken lag.
    Heumann stand da, mit einem großen, abgestoßenen Karton. Bevor ich etwas sagen konnte, kippte er den Inhalt aus. Handgroße
     undefinierbare Stücke krachten auf den Boden. Ich zuckte zusammen.
    Was ist denn das? entfuhr es mir. Ich beugte mich unwillkürlich vor.
    Na rate mal, sagte Heumann und stellte den Karton weg. Er musste niesen.
    Stand lange im Keller, sagte er und schnäuzte sich. Mit einem Stofftaschentuch.
    Ich nahm eins der Stücke in die Hand. Ich zitterte. Mein Hals war plötzlich ganz trocken. Es war Leinwand mit Farbe, trocken
     und hart. Es waren die ungeduldig zerschnittenen Teile einer Leinwand. Viele Teile. Lauter farbige Leinwandstücke übersäten
     den Boden. Sie leuchteten und tanzten. Ocker, Schwarz, Blau, Weiß, Braun. Wirre Linien, breite Striche. Ich nahm noch ein
     Stück in die Hand, fuhr vorsichtig über die ungleichmäßig erhabene Farbe.
    Was ist das? fragte ich noch einmal. Ich musste wieder schlucken. Ich hatte einen Verdacht.
    Zerschneiden, hat sie gesagt, sagte Heumann. Eva hat die Dinge immer etwas wörtlich genommen. Sie hat es zerschnitten.
    Meine Güte, sagte ich und ließ die Stücke aus meiner Hand fallen. Ich war fassungslos.
    Heumann öffnete eine neue Flasche Rotwein. Wir saßen in der Küche und tranken den Wein. Ich konnte den Blick von den Schnipseln
     nicht fortnehmen. An einigen hing der Überrest eines Spannrahmens. Manche lagen auf dem Rücken. Die Schnipsel leuchteten.
    Wie hat sie es gemacht? fragte ich.
    |307| Mit einem Teppichmesser, sagte Heumann.
    Nachdem wir die Flasche geleert hatten, begaben wir uns mit einer weiteren Flasche und unseren Gläsern auf den Fußboden. Wir
     fingen an, auf Heumanns grau lackiertem Fußboden das Bild zusammenzusetzen. Das Bild von Jackson, das ich gehasst hatte und
     das ich vollkommen anders in Erinnerung hatte. Wir krochen auf allen vieren herum und arbeiteten sehr konzentriert. Wir schoben
     und probierten.
    Ein gründliches Mädchen, hickste ich.
    Es ist ein Frühwerk, kicherte Heumann, ich könnte es für viel Geld verkaufen.
    Dann müssen wir uns aber richtig anstrengen, sagte ich.
    Da war es aus mit uns. Wir fingen an zu lachen. Wir hockten auf
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