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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt
Autoren: Tanja Langer
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meisten hier, sie ignorieren diesen Umstand der Teilung und haben keine besonderen Gefühle. Einmal legte er
     den Arm um meine Schulter und sagte: Nora will dich kennenlernen. Du sollst sie besuchen.
     
    Der Dezember ist kalt und es soll noch kälter werden.
    Der schöne Mann liegt auf den weißen Dielen meines Zimmers, wie auf den Planken eines Schiffs, ausgestreckt, ich musste immerzu
     seine Hüften betrachten und versteckte mich
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hinter dem Block. Ich zeichnete ihn; obwohl ich die Zeichnerei wegen Jackson eigentlich aufgeben will, aber es kam mir plötzlich
     in den Sinn, nach dem Block zu greifen. Ein Satz fiel, in den Raum geflüstert, nun ist es ausgesprochen, die Ruhe hin, ist
     sie ja eh, Wangen rot, die Lippen f a s t nah, und die plötzliche Entschiedenheit machte ihn für einen langen Augenblick zu
     dem Mann, der sonst hinter seinen verschlossenen Zügen nur ahnbar durchschimmert.
    Wie lange noch? Wie lange wird es so weitergehen? Diese seltsame Spannung? Ich will nicht. Ich will Freundschaft und Vertrauen,
     die Sicherheit, die nur in der Freundschaft sein kann. Ich will helle Tage und mit einem Freund alles teilen. Ich will den
     Winter überstehen und den Frühling abwarten.
     
    Während ich las, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Ich spürte es erst, als ich aufsah. Heumann hatte wohl schon eine
     Weile still dagesessen. Ich wischte mir über die Wangen; er reichte mir ein Taschentuch.
    Ich bin eben ein Weichei, sagte ich und grinste hilflos.
    Sei nicht dumm, sagte Heumann. Wir sind unter uns. Nenn uns, wie du willst.
    Wir saßen eine Weile da, ohne etwas zu sagen. Das Tischtuch war weiß und gebügelt. Die Weingläser schön poliert. Die Kerzen
     verbreiteten ein behagliches Licht. Ein freundlicher Mensch saß mir gegenüber und sah mich aufmerksam an.
    Wie konnte ich nur so bescheuert sein? fragte ich.
    Du warst jung, sagte Heumann, das ist alles.
     
    Zu Hause sah ich noch lange aus meinem Fenster hinab in die nachtleeren Straßen. Ich erinnerte mich an den Morgen, als Robert
     mich und Eva zu einem Frühstück eingeladen hatte. Eva hatte Josef mitgebracht. Wir bewunderten Roberts neu eingebaute Küchenschränke.
    Josef sprang mir auf den Schoß. Gedankenverloren streichelte |301| ich den Kater, wie manches Mal zuvor. Und plötzlich fiel mir ein, wie sehr ich ihn am Anfang abgelehnt hatte. Wie es mich
     gestört hatte, dass er uns zusah. Dass er da war. Schlagartig fühlte ich mich wie Josef, kurz bevor er vom Bett gestoßen wird.
     Wut stieg in mir hoch, unaufhaltsam.
    Ich fing an, Eva mit Vorwürfen zu überhäufen, wegen ihrer schnellen Wechsel, wegen ihrer Geheimnisse, wegen ich weiß nicht,
     was. Ich geriet in Rage und schrie Robert an. Du wirst viel Liebe kriegen, schrie ich, aber auch viel Schmerz, herzlichen
     Glückwunsch, jetzt hast du sie am Hals, du wirst schon sehen, was du davon hast.
    Eva war damals fortgerannt. Ich schrie weiter wie verrückt. Mehr weiß ich nicht.
    Noch vor Kurzem hätte ich behauptet, ich hätte damals nie geweint. Das Gedächtnis ist ein großer, unübersichtlicher Ort, von
     dem man nicht alles gleichzeitig in den Blick bekommen kann.
    Jetzt aber weiß ich es wieder: Ich habe nach diesem Frühstück mit Robert und Eva, bei dem ich die Fassung verlor, die ganze
     Nacht geheult. Ich saß auf meinem Bett und rotzte ins Laken.
     
    Ich habe die Frauen nach Eva nicht an mich herangelassen, Cornelia nicht und nicht Irene. Ich konnte es gar nicht. Irgendein
     Teil von mir war einfach nicht mehr ansprechbar. Melancholie, so lese ich, steht im Zusammenhang mit unerträglichen Zuständen
     der Gesellschaft. Sie birgt ein utopisches Potenzial.
     
    Mein Versuch, nach diesem Ausbruch die Freundschaft mit ihr und Robert aufrechtzuerhalten, scheiterte. Die Gespräche wurden
     immer angestrengter. Ich konnte Eva nicht sehen, ohne an Robert in ihr zu denken. Der Wunsch, Robert bekäme genau wie ich
     nicht alles von ihr, trieb mich um. Der Gedanke, sie könnte sich ihm vollständiger öffnen als mir, |302| machte mich wahnsinnig. Ich bohrte. Ich bettelte und bat, sie sollte mir alles erzählen.
    Das geht jetzt nicht mehr, sagte sie. Tut mir leid, Kumpel.
     
    Heumann sagt, es wäre eine Illusion zu denken, wir wären damals irgendwie unschuldiger gewesen. Ich habe einen alten Brief
     gefunden, in meinem Karton von früher, ich wollte diese Sachen nie anschauen, jetzt habe ich sie hochgeholt, und da lese ich
     in diesem niemals abgeschickten Brief von mir
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