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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt
Autoren: Tanja Langer
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ich nachdenklich nach Hause trottete, nachdem Eva mich angerufen hatte, um sich
     von mir zu verabschieden, und ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hatte sich von Robert getrennt, endgültig, |310| deshalb hatte sie mich gebeten, ihm nicht zu sagen, wohin sie ging. So standen die Dinge zwischen ihnen.
    Damals wurde mir plötzlich mulmig. Was macht einer, der seinen Zauberstab zerbrochen sieht? Was macht ein Mann, dessen Selbstbild
     in Scherben geht? Der immer so sicher gewesen ist, alles im Griff zu haben? Der Gedichte voller Zärtlichkeit und Grausamkeit
     schreibt, der seinem besten Freund die Liebste wegnimmt? Der glaubt, den Abstand wahren zu können, die Oberhand zu haben,
     der glaubt, frei zu sein von allen Begierden?
    Die »richtigen Männer« – töten.
    Er konnte sie nicht töten.
     
    Ich schoss hoch und fuhr zu ihm. Ich raste durch die Stadt, in meinem DAF, ich überfuhr Ampeln. Ich rannte die Treppe hoch,
     ich hämmerte an die Tür, ich ging zur Nachbarin und erzählte ihr sonst etwas, damit sie mir den Zweitschlüssel aushändigte.
    Ich fand ihn. In der Badewanne. Voller Wasser und Blut. Ich riss ihn aus der Wanne. Er war schmal, aber schwer. Ich holte
     Handtücher aus der Küche und band ihm die Handgelenke ab, wie ich es in der Ersten Hilfe gelernt hatte. Ich rief den Notarzt.
     Bis er kam, kniete ich am Boden und hielt Robert im Arm. Ich hielt Robert wie die Maria den Jesus, ich küsste sein Gesicht,
     ich flüsterte seinen Namen. Wenn du stirbst, stirbt sie auch, sagte ich. Ich wusste, dass er es nicht hören konnte, aber ich
     hörte es, und vielleicht hörte er es doch.
    Er hat es überlebt. Ich habe ihn gepäppelt, solange er es zuließ, dann trennten sich unsere Wege. Er ließ es nicht so lange
     zu wie Eva damals, nachdem Jackson fortgegangen war. Eva konnte nehmen, ich konnte nehmen, Robert konnte es nicht. Das hat
     ihn von uns getrennt. Hätten wir alles gewusst, Eva und ich, was wir heute wissen, vielleicht wären wir ein glückliches Paar
     geworden. Das Leben ist ungerecht, ich könnte auch sagen, es hat ein beschissenes
timing
.
    |311| Ich bin ein Mann mit großem Respekt.
    Ich liebte ein Mädchen, das hieß Eva. Mein Freund kam und hat sie mir genommen. Wir waren zu jung, um uns selbst zu verstehen.
    Wir haben ihn geliebt, Eva und ich.

Informationen zum Buch
    Sie sind jung. Anfang zwanzig. Keiner kennt sich selbst, aber alle wollen es wissen. So auch Eva mit ihrer Unruhe und ihren
     wilden Träumen, die alles am eigenen Leib spüren muss. Mitte der 80er-Jahre studiert sie Kunstgeschichte in Westberlin. Der
     Stadt steht ein gewaltiger Umbruch bevor, aber das weiß damals noch niemand. Noch scheint die Szene intakt: eine Boheme, die
     sich unendlich viel Zeit nimmt, um sich und das Leben neu zu erfinden. Konrad liebt Eva, Eva liebt Jackson, Robert liebt Eva,
     und Eva verfällt ihm. Auf der Suche nach Liebe, existenziellem Leben, dem perfekten Augenblick und noch ein paar anderen Dingen
     geht Eva von einem zum anderen, liefert sich aus und bleibt am Ende bei keinem.
    Tanja Langer zeichnet in knappen Strichen die Zeit eines großen politischen Umbruchs und begibt sich vorbehaltlos auf Entdeckungsreise
     ins Innere ihrer Figuren. Sie sieht genau hin, wie verschieden Menschen sein können und wie groß die Verletzungen, die sie
     sich zufügen. Und sie zeigt, was für ein unübersichtlicher Ort unser Gedächtnis sein kann.

Informationen zur Autorin
    Tanja Langer , 1962 in Wiesbaden geboren, lebt seit zwanzig Jahren in Berlin. Sie inszenierte und verfasste Theaterstücke, bekam drei Töchter
     und arbeitet seither als Journalistin und Schriftstellerin. Sie schrieb Erzählungen und Hörspiele. Ihr erster Roman ›Cap Esterel‹
     ( dtv 13379) erschien 1999, drei Jahre später folgte ›Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich‹, 2006 erschien bei dtv der Roman ›Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte‹ ( dtv 13658). Zuletzt verfasste sie das Libretto für die Oper ›Kleist‹ von Rainer Rubbert, die im Frühjahr 2008 uraufgeführt wurde.
     Sie erhielt Auszeichnungen und Stipendien und ist Mitglied des deutschen P.E.N.
    Weitere Informationen und eine Sonderseite zu diesem Roman unter: www.tanjalanger.de
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