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Nackige Engel

Nackige Engel

Titel: Nackige Engel
Autoren: Max Bronski
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einmal besonders gefährdet. Warum eigentlich immer München?, fragte ich.
    Julius zuckte die Achseln und reichte mir ein Weißbier.
    Um das verstehen zu können, durfte man sich München nicht als bloßen Ort denken, sondern als geistige Verfassung, in der sich das Träumerische fortwährend in das Reale hineinwebt. Man konnte in München die Akropolis nachbauen, der italienischen Renaissance eine Straßenschneise nach Norden schlagen oder Kanäle durch die Stadt brechen, weil man auf einem Boot von Nymphenburg nach Schleißheim schippern wollte. Mögen täte man noch viel mehr! Dieser Überdruck lässt München unter einem ständig geschwollenen Hirn leiden, das noch dazu in die provinziell enge Kalotte des bayerischen Umlands eingepfercht ist. Nicht dass jeder Wahnsinn diesem Schwollschädel entspränge, aber wenn er erst mal in der Welt ist, findet er bei uns das nötige Reizklima, um zu keimen und schließlich zur Blüte zu kommen. In München hatte der steile Schein immer schon glänzende Aussichten gehabt, auch der von weit her importierte, denn original musste hier noch nie etwas sein, nicht einmal das Hofbräuhaus. Nur das Bier im Krug macht einen echten Rausch.
    Sicher hatten Julius und ich hier noch einmal je ein weiteres Weißbier entkorkt.
    – Prost!
    Bei uns konnte Lenin Zusehen, wie der Weltkampftag der Arbeiterklasse kollektiv im Biergarten absoff; hierzulande hockte Hitler als Onkel Dolf unterm Esstisch und ahmte für die Kinder die Geräuschkulisse einer kompletten Artillerie vom Schrapnell bis zum Mörser nach.
    – Echt?, fragte Julius.
    – Sicher, sagte ich. Habe ich gelesen. Und wenn du je eine seiner Reden gehört hast, dann weißt du, was ich meine.
    Julius nickte beeindruckt. Vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem ich mir an diesem Abend einzubilden begann, intellektuell auch die ganz großen Linien lässig im Blick behalten zu können.
    Also warum München? Weil jeder Wahnsinn Widerstand braucht, etwas, woran er sich reiben kann, um sich weiter zu erhitzen. Unser gut katholisches Milieu sorgt für ausreichend Wohlanständigkeit, für Leute eben, die sich gern über alles aufregen, was aus der Art schlägt. Und nun kommt noch eine zweite Zutat ins Spiel: Dem bayerischen Menschenschlag ist eine seltsame Art des Duldens eingepflanzt. Die Tugend der clementia., aber mit begrenztem Haltbarkeitsdatum, nur so lange, bis das Maß voll ist. Man schaut sich auch den größten Schmarren eine Zeit lang an. Daraus ergibt sich eine Gemütsverfassung, die man als Erregungs- und Ruhezustand gleichermaßen bezeichnen kann: grantiges Abwarten. Wenn der Vorrat an Geduld verbraucht ist, schlägt man zu, dann aber ansatzlos und hart. Das mit dem viel geliebten Ludwig I. und der Tänzerin ließ man sich eine Weile lang gefallen. Schließlich hat man ihn zum Teufel gejagt. Unsere Revolution und die anschließende Räterepublik krochen nicht etwa aus den Tiefen des Mathäserkellers hervor, sie kamen so plötzlich und heftig in die Welt, als hätte man eine Bierflasche aufschnalzen lassen. Die Revolution musste her, und wenn schon, dann sofort. Das Neue kommt als Sturzgeburt. Der Protestant hingegen pflegt den zähen und vernünftigen Protest, nagelt erst mal Thesen ans Portal oder marschiert monatelang mit einer Kerze in der Hand um die Kirche. In Bayern wird der Kessel hochgeheizt, bis es den Deckel absprengt. Dann kracht es. Und da kann es schon mal passieren, dass dabei der brüllende Irrsinn entweicht.
    – Und so weit, sagte ich, sind wir jetzt fast schon wieder.
    Julius verschränkte die Arme und lehnte sich ostentativ nach hinten. Es kränkte mich, dass er die Stirn runzelte und vom Glauben an meine Rede abfiel. Wie ich nun wieder auf Hitler kam, wusste ich nicht mehr, aber ich wollte auftrumpfen als einer, der in die Abgründe der menschlichen Seele blicken konnte.
    – Würde Hitler heute durch München marschieren, würde der überwiegende Teil der Passanten wieder den rechten Arm hochrecken!
    Jetzt hatte sich Julius endgültig entschieden, auf der Seite der Gutmenschen zu bleiben. Er schüttelte den Kopf.
    – Glaube ich nicht. So viel Lehre hat man aus der Vergangenheit gezogen.
    – Und wer, meinst du, macht dann aus diesen jungen Burschen Nazis?
    – Ein paar Unverbesserliche oder Verirrte gibt es immer. Hier geht es doch ums große Ganze.
    Ich schrie ihn an, schalt ihn naiv, aber er blieb bei seiner Auffassung. So wogte das noch ein paar Weißbier hin und her, bis ich zum endgültigen Schlag
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