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Nackige Engel

Nackige Engel

Titel: Nackige Engel
Autoren: Max Bronski
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Alles ohne mich, denn auch mir war die Tugend des grantigen Abwartens reichlich zuteil geworden.
    Sie waren nur noch zu viert, zwei Fackel- und zwei Transparentträger. Es ging auf neun Uhr, und eine achtstündige Mahnwache zehrte auch die Ressourcen der Rechten aus. Die Kameraden der vorherigen Schichten hatten sich wohl schon um ihren Stammtisch versammelt. Die Schrecksekunde schien mir bereits auf Minuten angewachsen, aber dann zeigte die andere Seite endlich eine Reaktion: Vier Arme klappten zum Hitlergruß hoch.
    Große Erleichterung durchrieselte mich, und daran merkte ich, welch große Angst ich ausgestanden hatte. Natürlich mochte auch von denen niemand ernsthaft glauben, dass sie einen leibhaftigen Hitler vor sich hatten, wohl aber, dass mit meiner Vermummung höheren Orts eine besonders effektvolle Aktion eingefädelt worden war. Leider hatte man vergessen, den Schützen Arsch zu instruieren. Sie standen stramm. Mit dem Rest Hirn, das ich noch hatte, reimte ich mir die verwegene Hoffnung zusammen, dass ich in meiner Maskerade unberührbar bleiben würde. Als wandelndes Symbol! Ein Neonazi verprügelt doch keinen, der ihm als Hitler verkleidet gegenübertritt, ebenso wenig wie der Pfarrer einem Jesusdarsteller gegenüber handgreiflich werden würde. Da wirkte doch eine ganz natürliche Beißhemmung.
    Jetzt war ich am Zug.
    Ich legte die Hand grüßend an meinen Mützenschirm und drehte ab. Das war ein kritischer Moment; wie würden die vier reagieren? Erst mal passierte nichts. Ohne Instruktionen von oben auf sich allein gestellt, war der Trupp ausschließlich auf seine Schwarmintelligenz angewiesen und daher zunächst gehandicapt. Man dachte nach. Eine Richtung musste sich erst noch herauskristallisieren, damit sich der Haufen formieren konnte.
    Als ich das Knirschen von Springerstiefeln auf Kies hinter mir hörte, wurde mir klar, dass sich die komplette Mahnwache aufgemacht hatte, mir zu folgen. Wie eine Schleppe zog ich zwei Fackel- und zwei Transparentträger hinter mir her: Deutsche Ehre, deutscher Soldat!
    Es wäre eine hemmungslose Übertreibung zu sagen, dass ich noch sicher auf den Beinen war. Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte ich mich richtig volltrunken und hatte das beschissene Gefühl, hin und her zu schwanken. Sogar ein eingefleischter Altnazi, der seit Jahr und Tag mit seiner Standarte den Rudolf-Heß-Gedenkmarsch abmetert, hätte mit meinen sechs, sieben Weißbier im Leib erhebliche Probleme gehabt, sauber an der Spitze zu marschieren. Dazu das unangenehme Gefühl, dass mir vier misstrauische Augenpaare Brandlöcher in den Uniformrücken schmurgelten. Außerdem plagten mich ein fürchterlicher Angst- und Bierdruck auf der Blase und vor allem der eine Gedanke: Wie komme ich aus dieser irrwitzigen Nummer wieder heraus?
    Wir überquerten die Thalkirchner Straße. Erste Pfiffe von Passanten ertönten. Blitzlicht flammte auf, jemand schien zu fotografieren. Wie ein ferngesteuerter Zombie hielt ich auf die große Baustelle an der Walterstraße zu. Mit Julius hatte ich vor einiger Zeit das dort abgestellte Gerümpel gefilzt, um festzustellen, ob etwas Brauchbares darunter war. Ich wusste daher, dass es eine Baustellenzufahrt nach der anderen Seite hin gab.
    – Warten!
    So cheffig, wie es mir zu Gebote stand, raunzte ich den Befehl zu meinem Trupp hin. Dann verschwand ich zwischen den Dixiklos hindurch in das Erdgeschoss des Rohbaus. Bald schon fing ich an zu laufen, riss mir den Mantel vom Leib und die Mütze vom Kopf, schmiss beides in einen Container und rannte schneller als der deutsche Landser vor dem überlegenen Feind Richtung Heimat.
    Julius gegenüber war ich zu keiner zusammenhängenden Erklärung fähig. Dass die Sache aus dem Ruder gelaufen sein musste, sah er an dem Fehlen der Uniformstücke. Eine Weile lang hoffte er wohl, dass mich die Cognacs, die wir tranken, wieder zu einem artikulationsfähigen Menschen machen würden. Aber ich wollte alles in einem grundlosen Ozean des Vergessens ersäufen, was ich da durch meine dreiste Dummheit herausgefordert hatte, und so passierte eigentlich nur dies, dass wir uns heftig wie selten zuvor die Kante gaben.
    6
    Seitdem Julius die Zeitung auf den Tisch geworfen und mein dumpfes Sinnieren schweigend hingenommen hatte, wartete er darauf, dass ich irgendwelche Anzeichen von Reue zeigte. Theoretisch ja, praktisch nein, ich blieb hartnäckig im Zustand des Stupor Alcokolicus, wenn überhaupt für irgendetwas geeignet, dann sicher nicht für die
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