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Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Titel: Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Autoren: Earl Warren
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erhielt ihn sofort bewilligt. Sie konnte ab Mittwoch wegbleiben. Sonst gab es nicht viel zu erledigen. Letitia sagte ihren Freundinnen und Bekannten Bescheid, sorgte dafür, dass während ihrer Abwesenheit die Blumen in der Wohnung regelmäßig gegossen wurden und packte. Am Mittwochnachmittag stieg sie schon auf der Victoria Station mit Thomas Morton in den Zug, nachdem sie dem Grab ihrer Mutter noch einmal einen Besuch abgestattet hatte.
    Die Bahnfahrt führte durch ganz England und Schottland und dauerte mit zweimaligem Umsteigen ab Glasgow bis zum nächsten Vormittag. Onkel und Nichte freundeten sich während dieser Zeit an. Letitia kam ihr Onkel recht umgänglich vor. Er war sehr um ihr Wohl besorgt und immer aufmerksam.
    Während der langen Bahnfahrt erzählte Thomas Morton Letitia viel über die Hebriden und über die Mortons. Es handelte sich um über 500 Inseln, die durch den Minch-Kanal und die Barrapassage abgeteilt nordwestlich von Schottland lagen. Neben den paar Hauptinseln gab es zahllose Inselchen, die oft nur aus Kalksteinen bestanden und Seevögeln als Nistplätze dienten.
    Rund hundert Inseln wurden bewohnt. Die Inseln hatten ein sturmreiches, kühles Klima. Dort lebte ein eigener Menschenschlag mit gälischer Umgangssprache, der, dem Neuen wenig aufgeschlossen, zäh an den alten Traditionen und Überlieferungen festhielt. Mühseliger Ackerbau und die Fischerei gaben den Lebensunterhalt ab. Für den durchschnittlichen Londoner lagen die Hebriden so fern wie der Mond. Auch Letitia hatte bisher nichts darüber gewusst.
    Das Fährschiff brachte Letitia und ihren Onkel über den Nordminch-Kanal zu der Insel hinüber. Grau rollten die Wellen unter einem weiten, bewölkten Himmel an. Möwen flogen kreischend über das Deck des Fährschiffs weg, auf dem Letitia und Thomas Morton standen. Die Seebrise zauste Letitias lange Haare und ließ Mortons Backenbart wehen wie Distelflaum.
    Nach der mehrstündigen Überfahrt sah Letitia die Konturen der Insel Lewis and Harris sich aus dem Dunst schälen. Die auflaufenden Wellen bildeten eine schäumende weiße Linie an der buchtenreichen Küste. Man sah nur wenig Grün im Landesinnern. Am Fuß eines Hügels erstreckte sich, teilweise auch den Hang hochgebaut, der Ort Stornoway mit einem Fischereihafen.
    Die massiven Steinhäuser hatten größtenteils reetgedeckte Dächer. Die Straßen waren, wie Letitia beim Näherkommen sah, verwinkelt und mit Kopfsteinen gepflastert.
    Stornoway schien am Ende der Welt zu liegen. Im Hafen lagen Fischkutter vor Anker und dümpelten ein paar Boote, Möwenschwärme flogen über der Küste, ihr Geschrei war allgegenwärtig.
    »Das ist Stornoway«, sagte Thomas Morton. »Dort oben am Hang steht das Herrenhaus der Mortons. Zurzeit bewohnt es die alte Helen, unser Clanoberhaupt. Wir andern Mortons wohnen im Dorf.«
    Letitia sah ein massiv gebautes Herrenhaus mit Erkern und Türmchen. Es stand abseits von den übrigen Häusern und überragte sie. Es war größer und höher sogar als die Kirche, deren Turm weder Wetterhahn noch Kreuz zierte.
    Das Fährschiff tutete und näherte sich der Mole. Das Kielwasser schäumte, als der Kapitän das Anlegemanöver ausführte, das mit einem sanften Stoß endete. Nur wenige Reisende waren zur Insel gekommen, keiner mit einem Fahrzeug.
    Thomas Morton bot Letitia den Arm und führte sie vom Schiff. Letitias Gepäck würden andere von Bord bringen. Letitia trug ein fliederfarbenes, sehr schickes zweiteiliges Kleid und modische Goldohrringe.
    Mortons Tweedjacke, Kniehosen und Gamaschen passten indessen besser in diese Gegend. Er führte Letitia zu einer Gruppe von zwölf Personen, die am Kai warteten. Eine schwarze Kutsche mit spiegelblanken Beschlägen und Messinglaternen, in denen noch Kerzen steckten, stand im Hintergrund. Vier Rappen waren vor diese Kutsche gespannt.
    Letitia staunte, als ihr aufging, dass diese Kutsche auf sie wartete. Auf der Insel gab es anscheinend kaum Autos. Es lohnte wohl auch nicht, weil zu wenig Straßen vorhanden waren.
    Morton stellte Letitia vor. Letitia sah sich drei Männern und neun Frauen gegenüber, die sie umdrängten und in der rauen gälischen Sprache auf sie einredeten. Letitia konnte kein Gälisch.
    Sie lächelte freundlich und nickte ihren Verwandten zu. Die Frauen trugen alle Umschlagtücher. Ihre Gesichter waren verwittert und kernig. Letitia bemerkte nur ein junges Mädchen in ihrem Alter. Von den übrigen Frauen war keine unter Dreißig, die meisten wesentlich
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