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Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Titel: Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Autoren: Earl Warren
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Nachtschwester hätte herbeirufen können. Wer in dem Sterbezimmer lag, für den gab es keine menschliche Hilfe mehr.
    Mary Cabell hatte die Sterbesakramente empfangen. Doch sie gaben ihr wenig Trost. Da war etwas, das sie beschäftigte und den Tod fürchten ließ, mehr als es bei vielen anderen der Fall war.
    »Der Schatten!«, stöhnte sie. Und: »Das ist die Rache der Mortons. Letitia, da kommt er!«
    Von Grauen gepackt, saß Letitia neben der Mutter. Mary hatte sich wieder aufgesetzt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Tür. Narrten Letitia die Sinne, oder sah sie dort tatsächlich eine Bewegung? Ihr war, als ob sie einen Luftzug spürte. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf vor Grauen. Eine Gänsehaut überlief sie, und sie fröstelte am ganzen Körper.
    Letitia spürte, nein, sie wusste, dass ein Dritter im Zimmer zu Gast war. Jemand, den ihre Mutter sah, und der sie für immer hinwegnehmen würde.
    Mary streckte die Hand aus. Die abwehrende Geste erstarb in einem Zittern. Mary schaute ihre Tochter noch einmal an. Dann sank sie mit einem Seufzer zurück und hörte von einer Sekunde zur anderen zu atmen auf.
    Letitia schaute fassungslos auf die reglos Daliegende. Sie sah die gebrochenen Augen, den ein wenig geöffneten Mund und das Gesicht, das jetzt einen Ausdruck des tiefen Friedens trug. Letitia wehrte sich gegen die Erkenntnis, dass ihre Mutter tot war. Sie konnte und wollte es nicht akzeptieren.
    Die Mutter hatte immer für Letitia gesorgt. Ihren Vater hatte Letitia nie bewusst kennengelernt, denn er hatte sie und ihre Mutter schon verlassen, als sie erst zwei Jahre alt gewesen war. Letitia hatte ihn nie wiedergesehen. Für Mary Cabell, die nicht wieder heiratete, war es schwer, ihr Kind allein durchzubringen.
    Trotzdem hatte Letitia nie etwas entbehren müssen. Ihre Mutter putzte, sie nahm Aushilfsarbeiten an und war als Verkäuferin tätig, weil sie keinen Beruf erlernt hatte. Dabei war sie Letitia gegenüber immer freundlich und geduldig gewesen.
    Erst als sie erwachsen wurde, hatte Letitia erfasst, was ihre Mutter geleistet hatte. Die Riesenstadt London konnte unbarmherzig sein. Armut war dort eins der größten Verbrechen.
    »Mutter«, »stammelte Letitia», »bitte, sag doch etwas, Mutter.«
    Es lief ihr heiß übers Gesicht. Erst als sie das Salz schmeckte, wusste Letitia, dass sie weinte. Der Schmerz sprang sie an wie ein wildes Tier und durchbohrte ihr Herz. Der Mensch, der sie auf Erden am meisten geliebt hatte, war von ihr gegangen.
    Letitia war allein. Es bot ihr keinen Trost, dass der Tod ihre Mutter von schlimmen Schmerzen erlöst halte, die zuletzt nicht einmal das Morphium mehr richtig linderte.
    Sie weinte heiße Tränen um ihre Mutter und umklammerte ihre Hand. Der Tod war gegangen. Er hatte Letitias Mutter mitgenommen.
    Erst nach einer Weile war Letitia fähig, ihrer Mutter sacht die Augen zu schließen, sie bequem zu betten und hinauszugehen und die Nachtschwester und den Arzt zu verständigen. An die letzten Worte ihrer Mutter dachte sie kaum. Schmerz und Trauer nahmen ihr ganzes Fühlen und Denken ein.
    Als Letitia das Krankenhaus verließ, ging gerade die Sonne auf. Die Vögel zwitscherten in dem Klinikpark. Der Tag erwachte. Die Natur jubilierte, und selbst das Häusermeer von London war unter seiner Dunstglocke schön. Letitias Herz war kalt wie Eis. Wie eine Schlafwandlerin ging Letitia zur Bushaltestelle, um nach Soho hinüberzufahren, wo sie mit ihrer Mutter eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung bewohnte…
     
    *
    Drei Tage später wurde Letitias Mutter auf dem Londoner Südfriedhof beigesetzt. Es war ein warmer Spätsommertag. Wolken trieben wie weiße Wattebäusche an einem blauen Himmel.
    Dem Kiefernholzsarg mit Messingbeschlägen folgten nur wenige Trauergäste.
    Die Worte des Pfarrers rauschten an Letitia vorbei. Letitia überschaute die Trauergäste. Es waren bis auf eine Ausnahme einfache Leute aus ihrer Nachbarschaft, hauptsächlich Frauen.
    Der Mann, der die Ausnahme darstellte, war eine fremdartige Erscheinung. Letitia sah ihn zum ersten Mal. Er war hochgewachsen. Letitia schätzte ihn auf Mitte Fünfzig. Er trug einen altväterlichen schwarzen Anzug mit langen Schößen und hielt einen Zylinder unter dem Arm.
    Sein Gesicht war knochig, die Augenbrauen buschig. Die Nase sprang wie ein Raubvogelschnabel hervor, und in den Augen schien ein düsteres Feuer zu glühen. Sein Blick suchte immer wieder Letitia.
    Der Fremde hatte dichte grauschwarze Haare,
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