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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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    ADRIAN
    Ich bin eigentlich nicht der Typ, der ein Tagebuch führt. Niemand, den ich kenne, macht so was. Abgesehen von Jonathan, aber der ist Prof an der Uni, und die spinnen sowieso alle. Sagt er zumindest. Und mein Vater, aber der ist Schriftsteller und schreibt, sobald er morgens die Augen aufmacht. Außerdem nennt Toby (also mein Vater) das nicht »Tagebuch«, sondern »Notizen«.
    Also gut. Wir sind ein Männerhaushalt, ganz normal, und alle führen ein Tagebuch. Ich also jetzt auch. Es war Dr. Cockerells Idee, ich sollte einfach mal alles aufschreiben, was mich bewegt. Sie meinte, das würde mich entlasten. Ich habe ihr zwar gesagt, dass ich das viel besser hinkriege mit dem Entlasten, wenn ich male, aber sie meinte, das beträfe nur die Gefühlsebene, und es wäre doch gut, auch meinem Kopf mal die Gelegenheit zu geben, Ballast abzuwerfen ... und dann hat sie wohl gemerkt, was sie gesagt hat, jedenfalls ist sie blass geworden und hat angefangen zu stottern, und ich habe so getan, als hätte ich nichts gemerkt, und habe ihr versprochen, es zu probieren.
    H ier sitze ich also. Kaue auf meinem Daumennagel herum und starre aus dem Fenster. Ich höre das Meer und kann es auch riechen, die Luft schmeckt salzig und ein wenig nach Fisch. Hier in St. Irais, in einem dieser Cottages, haben wir früher oft Urlaub gemacht, wenn das Geld knapp war und alle meine Freunde irgendwohin geflogen sind, wo es heiß ist und man sich Malaria und Durchfall holen kann. Das hat meine Mutter immer gesagt und ein bisschen so geschaut, als hätte sie Zahnschmerzen. Und mein Vater hat geseufzt und gesagt, er würde sich doch die Finger wund schreiben, aber mit Gedichten und Theaterstücken kann man heutzutage nichts verdienen.
    Maman ist es dann wohl zu viel geworden damit, dass wir kein Geld für Urlaub haben, sie seine Geistesabwesenheit aushalten muss und dass sie ihn nie irgendwas fragen kann. Sie hat ihre Koffer gepackt und ist zurück nach Frankreich gegangen.
    Das ist die offizielle Fassung. In Wirklichkeit hat sie ihn mit Jonathan erwischt. Die beiden leugnen es, aber ich kenne Maman. Wenn es eine Frau gewesen wäre, hätte sie Papa eine Szene gemacht und ihm angedroht, dass sie ihn umbringt, wenn das noch mal passiert. Aber dass Papas Seitensprung keine hübsche, vollbusige Blondine ist, sondern ein etwas übergewichtiger, kahl werdender Jonathan mit Vollbart ... Sie hat kein lautes Wort gesagt. Sie ist blass geworden und dann ist sie gegangen.
    Ich wollte damals nicht mit ihr gehen. Ich mag Südfrankreich nicht besonders leiden. Und ich liebe meinen Vater ein ganz kleines bisschen mehr als Maman – auch wenn ich das keinem von beiden verraten würde. Aber dies hier ist mein Tagebuch, und in das darf – nein, SOLL – ich ja alles schreiben, damit mein Kopf entlüftet wird.
    U nd damit bin ich bei mir, bei Adrian Christopher Smollett, fast siebzehn Jahre alt und ein Freak.
    Sehen Sie, Dr. Cockerell, wie brav ich bin? Ich spiele das hier mit, damit Sie und mein Vater das Gefühl haben, alles für mich und mein Wohlbefinden getan zu haben.
    Jetzt bin ich müde. Ich habe Kopfschmerzen und die Kalte Stelle fühlt sich eisig an. Ich fühle mich überhaupt insgesamt nicht so besonders gut, wenn ich ehrlich sein soll. Ich werde meine Kamera nehmen und an einen meiner Lieblingsplätze an der Steilküste gehen. Wenn ich dort sitze, gegen den Stamm der krummen Kiefer gelehnt, dessen Rinde ein bisschen kratzt, den scharfen, frischen Geruch der Nadeln einatme und auf den Atlantik blicke, dann bin ich für ein paar Augenblicke wieder glücklich.
    Also, nicht dass man mich falsch versteht. Ich bin keine Heulsuse und kein Trauerkloß, ich bin meistens gut gelaunt und ganz sicher nicht jemand, der den ganzen Tag herumläuft und sich beklagt. Wozu? Der Roshi sagt mir die Meinung, wenn er mich dabei erwischt, dass ich selbstmitleidig werde. »Junge«, sagt er dann, »das Leben ist wie eine Schüssel Haferbrei. Meistens ist er klumpig und ziemlich oft angebrannt, und er schmeckt scheiße, wenn man keinen Zucker drüberstreut. Also hör auf, dich zu beklagen, weil du ihn nicht aufessen darfst.«
    ♦
    Wenn ich das Cottage verlasse, nehme ich meine Digicam mit und meistens auch mein Skizzenbuch. Natürlich habe ich in den letzten Wochen wenig gezeichnet oder gemalt ... es war einfach z u viel los. Der Umzug hierher, alles war neu und fremd und ungewohnt. Auch wenn wir den Ort kennen, ist es doch etwas völlig anderes, wenn man sich nicht nur als
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