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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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wie feines Porzellan wirken musste, umrahmt von langen, erstaunlich dunklen Wimpern und einem zarten Strich aus hellem Haar, der sich darüberwölbte – ich lächelte, während ich im Geiste die Farben zu mischen begann.
    » Ah ...« Das Mädchen erhob sich vorsichtig aus seiner zusammengekauerten Haltung. »Du gehst jetzt aber nicht mit der Axt auf mich los, oder?«
    Ich muss zugeben, dass ihr Anblick mich sprachlos gemacht hatte. Ich starrte sie an. Sie schob sich langsam auf die Stelle der Mauer zu, die bis in Knöchelhöhe eingebrochen war, und ließ mich dabei nicht aus dem Blick. »Alles gut«, sagte sie besänftigend. »Alles gut. Ich bin gleich weg. Entschuldige, dass ich hier einfach reingekommen bin.« Mit diesen Worten hatte sie das Loch erreicht und war fort.
    »Ah, oh«, machte ich und schüttelte meine Erstarrung ab. »Warte doch, ich ... he, hallo, wer bist du?«
    Ich hörte das Rascheln des Gebüschs und das Reißen von Stoff, dann war ich an dem Mauereinbruch und blickte hinüber auf das andere Grundstück. In der Ferne ragte das alte Herrenhaus auf, doch eine ungepflegte Rasenfläche mit Büschen und einigen kleineren Bäumen versperrte mir größtenteils den Blick. Von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen.
    Ich drehte mich enttäuscht um und begann die schmutzige Wäsche aufzusammeln. Wer war sie? Wohnte sie in dem alten Haus? War es überhaupt bewohnt?
    Das Haus. Es scheint mit einer leisen, lockend süßen Stimme nach mir zu rufen. Komm her, mein Freund. Komm in meine Arme. Lass dich fressen ...
    Ich blieb stehen, meine Arme beladen mit feuchtem, schmutzigem Stoff, und blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Mauer. Da war keine Spur, dass jemand dort gestanden hatte. Wahrscheinlich hatte ich mir das Mädchen nur eingebildet. Sie e rinnerte mich an meine Freundin, Kat – genau genommen meine Exfreundin Kat –, sie war genauso blass und hatte dieses feine blonde Haar, das aussah, als würde es von einem unsichtbaren Vollmond silbern angeleuchtet. Ja, ich hatte sie mir ganz sicher nur eingebildet. Ich vermisste Kat schrecklich, auch wenn ich mir Mühe gab, nicht an sie zu denken.
    Aber nein, dieses Mädchen war anders gewesen. Etwas an ihr erinnerte mich ... woran nur? Ich warf noch einen Blick zur Mauer, dorthin, wo sie verschwunden war, und stieg dann hinunter in den Keller, wo die Waschmaschine stand. Jonathan würde eben noch einen Tag länger auf seine Schürze warten müssen.

Novembers Tagebuch
    St. Irais, 15. Mai
    L iebes Tagebuch, dies ist mein erster Eintrag. Du riechst noch ganz neu, dein Einband ist seidenweich und schimmert im Licht. Ich liebe seine rote Farbe, sie erinnert mich an Rosen und den Sommer. Deine Seiten sind unberührt, cremeweiß schön, und ich scheue ein wenig davor zurück, sie mit Tinte zu beflecken ... aber nun stehen die ersten Worte auf deiner ersten Seite, leuchtend blau mit meinem Lieblingsfüller geschrieben, und ich erfreue mich an diesem Anblick.
    Liebes Tagebuch, du wirst mich nun begleiten bis zu meinem nächsten Geburtstag. Am 1. November werde ich sechzehn. Ich habe deine Seiten gezählt, und wenn mein Leben weiterhin so friedlich und ereignislos bleibt wie bisher, dann werde ich sie bis dahin wohl nicht vollständig gefüllt haben. Und danach ... ja. Danach werde ich dich wohl nicht mehr belästigen.
    O h. Und jetzt ist der letzte Satz ganz und gar verwischt. Wie dumm von mir. Man lässt seine Tränen nicht ungestraft auf frische Tinte tropfen.
    So.
    Ich habe mir die Nase geputzt und bin schon wieder ganz fröhlich. Es ist Frühling, die Bäume blühen und die Vögel singen, alles wird grün und riecht frisch und wunderbar. Ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang unternehmen, mich eine Weile an meinen schönen Platz an der Klippe setzen und den Möwen zusehen, wie sie über die Wellen fliegen. Und nachher gehe ich ins Dorf hinunter, halte einen Schwatz im Kramladen und trinke eine Tasse Tee in Harmony’s Garden . Vielleicht kommt Sammy ja mit, das wäre fein.
    Mama sieht es nicht gerne, wenn ich allein ins Dorf hinuntergehe. Die Dorfleute sind »gewöhnlich«, wie sie sagt. Aber eigentlich meint sie damit, dass sie sich ein wenig vor ihnen fürchtet. Ich verstehe es nicht, aber Papa hat einmal versucht, es mir zu erklären. Es hängt damit zusammen, dass wir die Vandenbourghs sind. Dass Heathcote Manor unser Haus ist. Die Leute aus dem Dorf fürchten sich vor dem Haus – und Mama fürchtet sich vor den Leuten aus dem Dorf. Damit sind wir
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