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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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musste nicht mehr hinsehen, das Auge war in meinem Kopf so klar wie auf dem Foto. Ein winziges Glanzlicht hier, der blaugrüne Schimmer auf dem lackschwarzen Gefieder, das so zart und flaumig ums Auge lag ... mein Pinsel tupfte und strichelte, und ich dachte für ein paar selige Minuten über nichts anderes mehr nach.
    Das Licht wanderte. Ich hob den Kopf und rieb mir die Augen, denn sie brannten vor Anstrengung wie Feuer. Mein Blick wanderte über die Bilder, die noch immer rundum an den Wänden lehnten, weil ich mich nicht entscheiden konnte, wo jedes einzelne von ihnen hängen sollte.
    Augen starrten mich an. Vogelaugen. Menschenaugen. Augen von Wieseln und Katzen, Hunden und Pferden, Kühen und Kröten. Schlangenaugen, Chamäleonaugen, Fliegenaugen und Augen von toten Fischen, die einen glasigen, verschwommenen Blick hatten, als schauten sie durch eine Scheibe Milchglas.
    Augen faszinieren mich. Sie sind Ausläufer des Gehirns, und wenn man in ihre Pupillen blickt und sich sehr darauf konzentriert, kann man tief hineinschauen und ein Gefühl davon bekommen, was da drinnen vor sich geht. Die Welt spiegelt sich in jedem Auge, aber in seinem Zentrum steht das Ich und sonst gar nichts. Ein schwarzer, tiefer Tunnel, der in das innerste Wesen führt.
    Damit meine ich nicht die Seele. Ich weiß nicht, ob es so etwas überhaupt gibt, aber sie ist nicht dort drinnen in der absoluten Dunkelheit der grauen Masse, der Neuronen, Dendriten, Axonen und Synapsen.
    A ber etwas anderes lauert dort in der Finsternis, und bei jedem Auge, das ich male, suche ich im Herzen der Dunkelheit danach.
    Ich beugte mich vor und griff nach meinem Lieblingsbild, das ein opalig schimmerndes Krötenauge zeigt. Goldene, grüne und zartblaue Schattierungen umranden eine große, tiefe, dunkle und geheimnisvolle Pupille.
    Jemand kichert in mein Ohr. Spinnenfinger, grünes Haar. Ich sehe mich nicht um, renne aus dem Zimmer. Frische Luft ist jetzt genau das Richtige.
    Natürlich lässt er mich nicht in Ruhe. Er ist meine Nemesis. Nemesis, Göttin des Zorns und der Rache, Tochter der Nacht. Es ist schon zu etwas gut, wenn man einen Dichter zum Vater und einen Literaturprofessor zum Stiefvater hat. Man kennt solche Begriffe und kann seine Freunde damit verwirren oder beeindrucken, je nachdem.
    Er sitzt auf dem Hackklotz, baumelt mit den langen Beinen, hat die Spinnenfinger um seine Knie gefaltet und grinst, wie nur der Joker grinsen kann. Breit, blutig, böse. Seine Augen funkeln dunkelrot wie Granat, wie Blut, wie Lava kurz vor dem Ausbruch des Vulkans. Hass und sadistische Freude sehe ich darin gespiegelt, Bosheit und den Wunsch, alles zu vernichten, was schön, friedlich und gut ist. In seinen starren Pupillen erkenne ich das, was in meinem Kopf wächst und mich zu einem anderen Menschen macht als der Adrian, der ich sechzehn Jahre lang war. Zu einem anderen – und sehr bald zu einem toten.
    Ich höre mich schreien. Die Axt liegt auf dem Stapel Holz, ich greife nach ihr und schlage wild nach dem Lemur. Er springt auf und tänzelt vor mir her, lacht und lockt: »Komm schon, K leiner! Das kannst du doch besser! Huch – daneben!« Er macht einen Satz und lacht schrill. »Nur gestreift! Du bist zu langsam, mein Guter. Das Ding in deinem Kopf macht dich zu Gemüse, weißt du das? Brokkoli oder Spinat, ich liebe Grün ... ups!« Er tanzt auf seinen Spinnenbeinen herum und verhöhnt mich. Seine spinatgrünen Haare sträuben sich, wogen wie Algen in der Meeresströmung. Die Axt saust durch die Luft, blitzt im Licht, trifft auf Widerstand. Ich höre mein Keuchen wie die Brandung in meinen Ohren rauschen.
    Zerfetzen, zerhacken, zertrampeln. Der weiche Boden, noch nass vom Regen, ist glitschig und ich rutsche immer wieder aus. Endlich, zu erschöpft, um noch einmal den Arm zu heben, lasse ich die Axt in den Matsch fallen und gehe in die Hocke, um nach Luft zu ringen. Keine Kondition mehr. Kein bisschen.
    Ich hockte inmitten unserer gar nicht mehr sauberen Wäsche. Die Leine war gerissen, die Wäsche in den Schmutz getrampelt. Ich stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen und der Joker lachte gellend.
    Eine raschelnde Bewegung an der Mauer zum Nachbargrundstück ließ mich hochfahren. Mein Blick traf auf ein Paar erschrockene Augen, grau wie der Frühnebel über einem schottischen Loch. Es waren wunderschöne Augen, klar und groß, und ich verlor mich in ihnen, während ich schon darüber nachdachte, wie ich sie malen würde: auf einem Hintergrund, der
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