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Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Titel: Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Autoren: Earl Warren
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älter.
    Die Männer hielten sich im Hintergrund. Auch Thomas Morton sagte nicht mehr viel. Eine große, kräftige Frau Mitte Fünfzig mit grauschwarzem Haar und dunklen Augen stellte sich Letitia mit starkem Dialekt, doch immerhin auf Englisch, als ihre Tante Ann vor. Das war also die Frau, die Letitias Mutter den Mann weggeschnappt hatte.
    Ann trug ein blaues Kleid aus teurem Stoff. Ihr Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst. Letitia konnte in ihren Gesichtszügen eine schwache Ähnlichkeit mit denen ihrer Mutter erkennen.
    Doch während Letitias Mutter sanft und verhärmt ausgesehen hatte, stand Ann in voller Blüte und wirkte herrschsüchtig und streng.
    Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen, dachte Letitia sofort. Ann war auch neun Jahre älter als Letitias Mutter. Den Namen der übrigen Mortons, die Ann ihr nun nannte, konnte sich Letitia nicht alle merken. Sie bekam nur mit, dass das ziemlich blasse blonde Mädchen in ihrem Alter Fiona hieß und zu dem stämmigen jungen Mann namens Angus gehörte. Jeder der zwölf war in irgendeiner Weise mit Letitia verschwistert oder verschwägert. Sie hörte auch nur den Namen Morton.
    »Heißt ihr denn alle Morton?« fragte Letitia.
    Die Frage wurde mit allgemeinem Gelächter quittiert.
    »Selbstverständlich«, antwortete Ann, die Wortführerin. »Thomas hat dir doch sicher bereits gesagt, dass der Name Morton von uns Frauen weitergegeben wird. Mein Mann John« – sie deutete auf einen langen Grauhaarigen mit offenem Gesicht und Boxernase – »ist ein geborener McCormick.«
    »Interessant. Ging das mit der Namensgebung denn auch schon, bevor der Gesetzgeber das aus Gründen der Gleichberechtigung allgemein einführte?«
    »Wir Mortons haben das immer so gehalten«, erwiderte Ann energisch. »Wir leben nach unseren eigenen Gesetzen und möchten keinem raten, sie umzustoßen. Ich heiße dich auf unserer Insel willkommen, Letitia Morton.«
    »Ich heiße Cabell.«
    Ann öffnete schon den Mund, brachte aber keinen Einwand vor.
    »Letitia«, sagte sie. »Wir freuen uns jedenfalls, dass du da bist. Steig in die Kutsche, damit wir ins Herrenhaus fahren. Helen, das Clanoberhaupt, erwartet dich schon sehnsüchtig. Selbstverständlich wirst du bei deiner Urgroßtante, unserer allseits verehrten Großen Mutter Helen, wohnen. Ach, Kleine, ich bin ja so froh, dass du da bist. Das hast du gut gemacht, Thomas.«
    Ann gab Thomas Morton einen Klaps auf die Schulter. Dann umarmte sie Letitia, drückte sie an ihren umfangreichen Busen und küsste sie auf beide Wangen. So viel Überschwang war Letitia nicht gewohnt.
    Sie machte sich steif und wurde zu ihrer Freude auch bald wieder losgelassen. Matrosen hatten Letitias Gepäck gebracht und in den Gepäckraum der Kutsche geladen. Die Matrosen entfernten sich eilig wieder und warfen den Morton-Frauen eingeschüchterte Blicke zu.
    Letitia wunderte sich auch, wie kleinlaut Thomas Morton den Frauen gegenüber auftrat. Man konnte ihn mit einem Blick oder einem Wink verstummen lassen.
    Letitia stieg als erste in die Kutsche. Ann, unter deren Gewicht die Kutsche sich bemerkbar senkte, und drei weitere Morton-Frauen stiegen ein. Angus und Thomas Morton nahmen auf dem Kutschbock Platz, und die Fährt ging los, vom Hafen durch die gewundenen Straßen zur Morton-Villa.
    Letitia schaute aus dem Fenster. Die Räder ratterten durch die engen Gassen und dröhnten auf dem Kopfsteinpflaster. Durch die gute Federung waren die Erschütterungen in der Kutsche jedoch nicht so stark, wie man hätte annehmen sollen. Unter den Hufen der Rappen sprühten Funken vom Pflaster.
    Die Menschen in den Gassen, auch die Kinder, wichen der Kutsche hastig aus. Letitia sah, wie sie sich scheu zur Seite drückten. Ihr fiel auf, wie ein Mann sich bekreuzigte und mit zwei gespreizten Fingern auf den Boden deutete, als die schwarze Kutsche vorbeifuhr.
    Zunächst wusste Letitia nicht, was das Zeichen bedeuten sollte. Dann fiel ihr ein, dass es die abergläubische Geste gegen den bösen Blick war. Letitia war davon merkwürdig berührt, vergaß ihr Erlebnis jedoch zunächst wieder.
    Die Fahrt führte bergauf. Nach einer Weile hielt die Kutsche vor dem Morton-Haus. Die Auffahrt führte durch einen Hohlweg, dessen Hänge mit Büschen bewachsen waren. Oberhalb des Hangs erhoben sich windzerzauste Föhren mit gewundenen Ästen.
    Als die Kutsche stand, öffneten Thomas und Angus die Türen.
    Letitia wurde als erste aus der Kutsche komplimentiert. Die Morton-Frauen führten sie
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