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Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Titel: Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Autoren: Earl Warren
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schaute sie ungläubig an.
    Als Letitia geendet hatte, rief er: »Die arme Mary muss in ihrer Todesstunde geistig verwirrt gewesen sein. Das gibt es mitunter bei Sterbenden. Sonst hätte sie solche Dinge nie sagen können.«
    »Ihr habt also nichts mit Hexerei zu schaffen? Und ihr betet auch nicht den Teufel an?«
    »Wie könnten wir? Wir sind aufrechte, gute Christen. Ich verstehe gar nicht, wie Mary darauf gekommen ist. Ein Traumgesicht muss sie verwirrt haben.« Er hob den Zeigefinger. »Hatte sie starke Schmerzen und erhielt vielleicht Morphium?«
    »Ja.«
    »Aha. Da rührt es her. Morphium ist ein Rauschgift, das die Sinne verwirrt. Den Effekt kann auch die Medizin nicht wegnehmen. Daher wird Morphium nur bei allerstärksten Schmerzen und bei Todkranken Verwendet. Mary hat im Morphiumrausch gesprochen.«
    Das war eine plausible Erklärung. Morton holte ein großes kariertes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. Er schluchzte und putzte sich die Nase.
    »Die arme Mary. Dass sie in ihrer Todesstunde solche Schreckensphantasien heimsuchten, ist entsetzlich. Meine arme Schwester. Was hat sie leiden müssen.«
    Morton weinte weiter und wollte sich nicht beruhigen. Letitia sah es schließlich als nötig an, ihn zu trösten. Mortons Kummer zerstreute ihr Misstrauen. Der Kummer schien echt zu sein.
    »Wir konnten uns nicht mehr mit ihr aussöhnen. Ohne Versöhnung ist sie von uns gegangen«, stöhnte er. »Bitte, komm nach Stornoway, Letitia. Begleite mich. Enttäusche mich nicht.«
    Mortons Verhalten rührte Letitia. Warum soll ich eigentlich nicht nach Stornoway fahren und meine Verwandten kennenlernen? fragte sie sich. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich jederzeit wieder abreisen. Letitia hatte ihren Jahresurlaub noch nicht genommen. Sie hatte nette Kollegen und Vorgesetzte. Da würde es keine Probleme geben, zumal die Urlaubszeit vorbei war.
    Vielleicht lenkte die Reise von dem Kummer ab, und Letitia bekam Abstand zum Tod ihrer Mutter…
    »Wirst du mitkommen, Letitia?« fragte Morton mit rotgeweinten Augen.
    Letitia bemerkte einen stechenden Geruch, der aus Mortons Kleidern zu steigen schien. Er wich sofort, als Morton das Taschentuch wegsteckte. Letitias Augen brannten.
    »Ich reise nach Stornoway. Aber ich komme in ein paar Tagen, Onkel Thomas. Zuerst muss ich meine Angelegenheiten hier ordnen. Ich kann nicht einfach Hals über Kopf abreisen. Kehr du nur schon einmal nach Hause zurück. Du wirst nicht lange wegbleiben können. Ich komme nach.«
    »Nein, nein, ich bleibe gern eine Weile in London. Da sehe ich mal was anderes. Für einen Provinzler wie mich ist London hochinteressant. Da gibt es viele Sehenswürdigkeiten. Das lasse ich mir nicht entgehen. Man wird in Stornoway auch ohne mich auskommen. So wichtig bin ich nicht.«
    »Wie du meinst, Onkel Thomas. Du musst es wissen.«
    »Dann reisen wir also zusammen nach Stornoway. Was glaubst du denn, wann du fahren kannst?« Letitia überlegte. »Vielleicht kann ich schon für die zweite Hälfte der nächsten Woche Urlaub erhalten. Heute ist Freitag. Ich schätze, spätestens Anfang der übernächsten Woche.« »Fein.«
    Thomas Morton verabschiedete sich. Er wohnte in einem Hotel. Letitia brachte es nicht über sich, ihm anzubieten, bei ihr zu logieren. Schließlich kannte sie ihn kaum, und sie war ein junges alleinstehendes Mädchen. Zudem hatte ihr Onkel erwähnt, dass die Mortons wohlhabend seien.
    Da konnten sie die Hotelkosten für die paar Tage bezahlen, fand Letitia.
     
    *
    Ein böses Grinsen überzog Thomas Mortons Gesicht, als er auf die Straße trat. Er zog sein mit Zwiebelsaft getränktes Taschentuch und schwenkte es, um den Dunst daraus zu vertreiben. Der Zwiebelsaft hatte Mortons Tränen hervorgerufen. Damit hatte er Letitia getäuscht und gerührt. Ohne die Tränen wäre sie nicht so leicht bereit gewesen, der Reise nach Stornoway zuzustimmen.
    Von Mortons Freundlichkeit gegenüber seiner Nichte war nicht die Spur zu bemerken, nachdem er sie verlassen hatte.
    »Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, du alberne Gans«, murmelte Morton. »Man braucht dich. Ich bringe dich nach Stornoway, und wenn ich dich hinschleppen muss. Satan hat mir die richtigen Worte eingegeben. Er wird mich auch weiter unterstützten.«
    Morton setzte seinen Zylinder auf und lachte teuflisch. Im Licht der Straßenlaternen sah Morton auf der schäbigen Straße mitten in Soho grotesk aus.
     

 
     
2. Kapitel
     
    Letitia bat am Montag bei der Bank um Urlaub und
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