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Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)

Titel: Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Autoren: Earl Warren
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schüttelte verwundert den Kopf.
    »Was ist denn so seltsam daran?« fragte Letitia. »Was heißt hier Herrinnen? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Außerdem heiße ich Cabell und nicht Morton.«
    »Weil deine Mutter gegen die Regel verstieß, dass die weiblichen Mortons den Namen weitervererben und nicht die Männer. Du bist eine Morton. Du hast das besondere Blut.«
    »Unsinn.« Letitias Stimme klang schärfer, als sie gewollt hatte. Man schaute zu ihr und Thomas Morton her. Sie gaben allerdings ein merkwürdiges Bild ab, der große, stattliche Mann und das schlanke schwarzhaarige Mädchen im Trauerkleid. »Was wollen Sie wirklich von mir? Sie sind nicht nur wegen der Beerdigung da.«
    Letitia spürte etwas Lauerndes bei Thomas Morton in der Art, wie er sie betrachtete. Er fühlte sich überlegen und schien sich über sie lustig zu machen.
    Jetzt senkte Morton den Blick.
    »Das ist nicht der geeignete Ort, darüber zu sprechen. Ich besuche dich, Letitia.«
    Thomas Morton verbeugte sich gemessen, wendete sich ab und schritt davon, ohne Letitia oder dem offenen Grab mit seiner Schwester noch einen Blick zu gönnen. Die kleine Trauergemeinde schaute ihm nach.
    Die alte Frau, die zuletzt mit Letitia gesprochen hatte, trat zu ihr.
    »Wer war das?« fragte sie, als die hochgewachsene schwarzgekleidete Gestalt, die durch den Zylinder noch größer erschien, zwischen den Bäumen und Büschen verschwand.
    »Ein zufälliger Gast«, antwortete Letitia, um keine Erklärungen abgeben zu müssen.
    Als das Grab zugeschaufelt war, legte Letitia mit zwei Friedhofsarbeitern Kränze und Blumen auf den Hügel. Ihre Tränen fielen auf die duftende Erde. Die Trauergäste hatten sich schon alle verlaufen. Die meisten würde Letitia bei einem Imbiss in einem Gasthaus in Soho wiedertreffen, so erforderte es der Brauch.
    Zum Schluss wurde ein einfaches weißes Holzkreuz mit Mary Cabells Geburts- und Sterbedatum auf den Grabhügel gesetzt. Unter dem Namen stand: geborene Morton.
    Obwohl die Sonne warm schien, überlief Letitia ein Frösteln. Die Ahnung wollte nicht von ihr weichen.
     
    *
    Letitia hatte sich drei Tage Urlaub genommen, um alle Formalitäten erledigen zu können. Der Tod eines Menschen brachte viel Lauferei zu Behörden mit sich. Letitia war kaum zu Atem gekommen, obwohl ihr ein Beerdigungsinstitut viel abgenommen hatte.
    Nach dem Begräbnis konnte sie es nicht lange bei dem Leichenschmaus aushalten. Die Gespräche der Menschen an der Tafel erschienen ihr banal. Sie unterhielten sich schon wieder über alltägliche Dinge. Ein Mann lachte sogar, verstummte dann aber rasch und mit einem verlegenen Blick auf Letitia.
    Letitia verließ den Leichenschmaus früh. Sie sagte dem Wirt, sie würde am nächsten Tag vorbeikommen und die Rechnung begleichen.
    Sie verließ das Gasthaus, ging nach Haus, zog sich um und irrte durch die Straßen von London.
    Erst als es dunkel wurde, kehrte sie nach Hause zurück, in die Zwei-Zimmer-Hinterhofwohnung in Soho. In dem Viertel lebten viele Ausländer. Es war nicht das Beste. Doch Letitia war in Soho aufgewachsen, hatte sich an die Verhältnisse gewöhnt und fand sich zurecht. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf.
    Im Treppenhaus roch es nach Bohnerwachs. Das Haus war eins der wenigen gepflegten in dem Bezirk, nicht mehr neu zwar, aber dafür war die Miete billig. Letitia schloss auf. In der Wohnung herrschte eine bedrückende Stille. Nur die billige Uhr in der Küche tickte.
    Die Wohnungseinrichtung war einfach. Letitia legte die Jacke an der Garderobe ab. Sie sah Kleidungsstücke ihrer Mutter dort hängen, aber es berührte sie in diesem Moment nicht sonderlich. Sie hatte an dem Tag schon zu viele Tränen geweint, um noch neue zu finden.
    Letitia war groß, schlank und hübsch. Die langen braunen Haare trug sie in der Mitte gescheitelt. Sie fielen ihr bis auf den Rücken. Ihre großen, mandelförmigen braunen Augen blickten melancholisch. Sie war ein eher besinnlicher Typ, ein Mädchen, das romantische Kleider der Jeansmode vorzog.
    Gerade als Letitia ins Schlafzimmer gehen wollte, das sie mit ihrer Mutter geteilt hatte, klopfte es an der Wohnungstür. Letitia ahnte schon, dass Thomas Morton draußen stand. Jemand anders hätte geklingelt. Letitia zögerte. Sie legte keinen gesteigerten Wert darauf, Morton zu sprechen.
    Andererseits hatte er eine weite Reise unternommen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Letitia zweifelte nicht daran, dass er tatsächlich mit ihr verwandt war. Außerdem
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