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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice
Autoren: Jake Adelstein
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Zehntausend Zigaretten
    »Vergessen Sie die Story, oder wir machen Sie fertig. Vielleicht auch Ihre Familie. Aber zuerst Ihre Familie, damit Sie Ihre Lektion lernen, bevor Sie sterben.«
    Der gut gekleidete Vollstrecker sprach sehr langsam, so wie man mit Idioten oder Kindern oder ahnungslosen Ausländern spricht.
    Offenbar meinte er es ernst.
    »Verzichten Sie auf die Story und auf Ihren Job, und alles ist vergessen. Wenn Sie den Artikel schreiben, werden wir Sie überall in diesem Land aufstöbern. Verstanden?«
    Es ist keine besonders gute Idee, Yamaguchi-gumi, Japans größte Verbrecherorganisation, zu reizen. Denn etwa 40 000 wütende Mitglieder sind eine Menge.
    Die japanische Mafia. Sie können sie als Yakuza bezeichnen, aber viele ihrer Mitglieder nennen sich lieber gokudo , was wörtlich »der höchste Weg« bedeutet. Yamaguchi-gumi ist die Spitze des Gokudo -Eisberges. Und unter den vielen Einzelgruppen, aus denen Yamaguchi-gumi besteht, ist Goto-gumi mit ihren über 900 Mitgliedern die schlimmste. Sie zerschlitzen Filmregisseuren das Gesicht, werfen Menschen von Hotelbalkons, jagen Planierraupen in Häuser und
vieles mehr.
    Und der Mann, der mir gegenübersaß und dieses Angebot machte, gehörte zur Goto-gumi.
    Seine Stimme war nicht drohend, er grinste auch nicht höhnisch oder kniff die Augen zusammen. Abgesehen von seinem dunklen Anzug sah er nicht einmal wie ein Yakuza aus. Er hatte noch alle Finger. Er rollte das R nicht wie die Ganoven in den Filmen. Eher glich er einem leicht indignierten Kellner in einem schicken Restaurant.
    Er ließ die Asche seiner Zigarette auf den Teppich fallen und drückte die Kippe dann automatisch im Aschenbecher aus. Dann zündete er sich mit einem vergoldeten Feuerzeug eine neue Zigarette an. Er rauchte Hope – weiße Packung, Blockbuchstaben. Reportern fällt so etwas auf, aber es waren keine normalen Hope-Zigaretten, sondern eine halb so lange, dickere Version. Mehr Nikotin. Tödlich.
    Die Yakuza hatte noch einen weiteren Vollstrecker zu diesem Treffen geschickt, doch der sagte kein einziges Wort. Der Stumme war dünn und dunkel, er hatte ein Pferdegesicht und wirres, langes, orange gefärbtes Haar – der Chahatsu -Stil. Er trug den gleichen dunklen Anzug.
    Ich war mit einem rangniederen Polizisten gekommen, der früher in der Einsatzgruppe gegen das organisierte Verbrechen im Bezirk Saitama gearbeitet hatte: Chiaki Sekiguchi. Er war etwas größer als ich, fast so dunkel, untersetzt, mit tiefliegenden Augen und einer Elvis-Frisur. Er wurde oft für einen Yakuza gehalten. Wäre er den anderen Weg gegangen, hätte er es bestimmt zu einem angesehenen Gangsterboss gebracht. Er war ein großartiger Polizist, ein guter Freund, in mancher Hinsicht mein Mentor, und er hatte mich freiwillig begleitet. Ich warf ihm einen Blick zu. Er hob die Augenbrauen, warf den Kopf zurück und zuckte mit den Schultern. Er würde mir keinen weiteren Rat geben. Nicht jetzt. Ich war also auf mich allein gestellt.
    »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich eine rauche, während ich
darüber nachdenke?«
    »Nur zu«, sagte der Yakuza etwas zurückhaltender als ich.
    Ich zog eine Packung Gudang Garam – indonesische Nelkenzigaretten – aus der Jacke. Sie enthielten viel Nikotin und Teer und rochen wie Weihrauch. Das erinnerte mich an die Tage, die ich als College-Student in einem Zen-Tempel verbracht hatte. Vielleicht hätte ich buddhistischer Mönch werden sollen. Doch jetzt war es ein wenig zu spät dafür.
    Nachdem ich mir eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte, tastete ich nach dem Feuerzeug, doch der Vollstrecker zückte flink seines und hielt es mir hin, bis er sicher war, dass meine Zigarette brannte. Er war sehr zuvorkommend, sehr professionell.
    Ich schaute zu, wie der dicke Rauch in konzentrischen Kreisen die Zigarettenspitze verließ. Die brennenden Nelkenblätter im Tabak knisterten, als ich inhalierte. Es kam mir vor, als sei die ganze Welt still geworden und als gäbe es nur dieses Geräusch: Knacken, Knistern, Glühen. So ist das bei Nelken. Kurz schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass die Funken hoffentlich kein Loch in meinen oder seinen Anzug brannten, doch dann fand ich, dass das momentan meine geringste Sorge sein sollte.
    Ich wusste wirklich nicht, was ich tun oder sagen sollte. Keine Ahnung. Denn ich hatte nicht genug Material für den Artikel. Verdammt, es war gar kein Artikel. Trotzdem. Er wusste das nicht, aber ich wusste es. Und meine wenigen Informationen hatten
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